Landwirtschaftliche Betriebe stehen vor erheblichen Herausforderungen: steigender Preisdruck, lange Arbeitszeiten und immer komplexere Vorschriften. Der Strukturwandel nimmt auch deshalb an Fahrt auf. Zunehmend mehr Betriebe geben ihre Landwirtschaft auf. Die Digitalisierung wird in diesem Zusammenhang oft als Lösung vorgeschlagen, doch in der Tierhaltung ist die Umsetzung aufgrund der komplexen biologischen Zusammenhänge und fehlender Datenschnittstellen schwierig.
Ein entscheidender Vorteil der Digitalisierung sind die schnelle Verfügbarkeit von Informationen und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Im Idealfall lässt sich jederzeit der aktuelle Systemzustand abbilden, indem theoretische Prozesse in Echtzeit mit Sensordaten gespeist werden. So können fundierte Managemententscheidungen getroffen werden – zumindest in der Theorie.
Know-how des Betriebsleiters
Der Landwirt ist ein Primärerzeuger, der hauptsächlich wenig veredelte Produkte hervorbringt. Egal welche Technik eingesetzt wird, die Milch muss immer noch von der Kuh produziert werden und die Saat im Boden wachsen. Effizienzsteigerungen können also nur durch ein optimales Verständnis der biologischen Zusammenhänge und Entwicklungen auf Acker und im Stall erreicht werden. Timing und Know-how des Betriebsleiters sind oft entscheidender als neue Technik.
Trotz vieler wissenschaftlich erforschter Zusammenhänge ist es in der Praxis oft schwierig, die ideale Entscheidung zu treffen. So wird beispielsweise eine Erkrankung erst erkannt, wenn diese vom subklinischen ins akute Stadium übergeht. Dies bedeutet erhöhte Kosten für den Tierarzt und Leistungseinbußen. Die große Herausforderung der digitalen Tierhaltung besteht also darin, diese biologischen „Systemzustände“ so abzubilden, dass der Betriebsleiter möglichst rechtzeitig reagieren und Verluste reduzieren kann. In der Praxis ist das bisher nur eingeschränkt möglich, der „digitale Profit“ der Tierhaltung aktuell noch eher gering.
Zukunft der Milchleistungsprüfung
Aufgabe der Milchleistungsprüfung (MLP) war schon immer die Speicherung und Auswertung von Produktionsdaten. In Schleswig-Holstein wurde bereits in den 1970er Jahren auf eine digitale Datenverarbeitung gesetzt.
Jeden Monat wird mithilfe der MLP-Ergebnisse ein digitales Abbild der Milchleistung jeder Mitgliedsherde erstellt. So können auf dieser Basis bereits wichtige Entscheidungen, wie zum Beispiel bezüglich der Fütterung und Selektion, getroffen werden. Zukünftig soll und muss die MLP dem Betriebsleiter jedoch noch mehr Einblick in seine Herde ermöglichen und neue Themen wie Tierwohl oder Methanemission aufgreifen.
Ein wichtiges Werkzeug ist dabei die Infrarotspektroskopie der Milch. Diese Technik wird seit Langem zur Bestimmung von Fett- und Eiweißgehalt genutzt und ist bereits ein fester Bestandteil der MLP. Seit einiger Zeit wird jedoch gezielt daran gearbeitet, weiterführende Indikatoren mithilfe der Infrarotspektren der Milchproben abzuleiten.
Digitaler Fingerabdruck
So kann auf Basis statistischer Verfahren eine Beziehung zu chemisch analysierten Referenzmilchproben hergestellt werden. Mithilfe dieser sogenannten Kalibrationsgleichungen lässt sich für jede Probe ein digitaler Fingerabdruck berechnen, der die automatisierte Analyse von Parametern wie Fettsäuren, Keton-Körpern und Lactoferrin ermöglicht. Zusammen mit anderen Informationen aus der MLP oder beispielsweise Klimadaten lassen sich komplexe Modelle konstruieren, die das System Milchproduktion immer feiner abbilden können.
Indikator für Ketoserisiko
Ein konkretes Beispiel ist der vom Landeskontrollverband (LKV) Baden-Württemberg entwickelte KetoMIR-Indikator, der Rückschlüsse auf das Ketoserisiko einer Kuh erlaubt. Neben den Daten der Infrarotspektroskopie fließen weitere Parameter (Fettgehalt, Laktationsnummer) in die Berechnung ein. Mit KetoMIR kann der Landwirt so zu jedem MLP-Termin seine Herde durchleuchten, Tiere mit einem erhöhten Ketoserisiko identifizieren und geeignete Maßnahmen ergreifen. KetoMIR steht den LKV-Mitgliedern in Schleswig-Holstein seit Anfang des Jahres zur Verfügung.
Ein weiteres Beispiel ist die Methanemissionsschätzung. Diese Technik, die aktuell auch in Schleswig-Holstein getestet wird, ermöglicht eine Schätzung der täglichen Methanproduktion der Herde auch auf Basis der Infrarotdaten. Ein verminderter Methanausstoß hat dabei nicht nur Klimarelevanz, sondern weist auch auf eine optimierte Fütterung und damit verbesserte Tiergesundheit und Wirtschaftlichkeit hin.
In Zukunft werden wahrscheinlich noch weitere Indikatoren Einzug in die MLP halten. Aktuell wird am Thema Hitzestress gearbeitet, und auch zur Erkennung einer Trächtigkeit auf Basis der MLP-Ergebnisse wird geforscht.
Das europäische „HoliCow“-Projekt
Um diesen aktuellen Trend weiter voranzutreiben, wurde das Projekt „HoliCow“ ins Leben gerufen. Das von der EU geförderte Projekt hat ein Gesamtbudget von über 4,7 Mio. € und wird von einem Konsortium aus zwölf Partnern aus sechs europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Irland, Luxemburg und den Niederlanden) getragen, darunter auch der LKV Schleswig-Holstein. Das im Sommer 2023 gestartete Projekt zielt darauf ab, Milch produzierenden Betrieben zu helfen, effizienter und nachhaltiger zu arbeiten, ohne große Investitionen tätigen zu müssen. Es soll dem Trend des Höfesterbens entgegenwirken. Zusätzlich wird eine Öffentlichkeitskampagne durchgeführt, um ein differenziertes Bild der Landwirtschaft zu vermitteln und Vorbehalte abzubauen.
Bisher wurden über 63 Millionen anonymisierte MLP-Ergebnisse zusammengetragen. Diese enorme Datenmenge (Big Data) wird genutzt, um auf Basis von Verfahren mittels Künstlicher Intelligenz (KI) ein digitales Werkzeug zu entwickeln, das Landwirten in Bereichen wie Gesundheit, Wohlergehen, Hitzestress, Produktion, Milchverarbeitung und Methanemissionen helfen soll, Probleme rechtzeitig und automatisch zu erkennen.
Das Projekt zielt weniger darauf ab, noch mehr neue Modelle zu entwickeln. Ziel ist es, praxistaugliche wissenschaftliche Modelle auf Basis moderner KI-Verfahren auszuwählen – Qualität statt Quantität. Mit einer App können Landwirte ihre Herden dann nach jeder MLP digital analysieren, auffällige Tiere genauer untersuchen und bedarfsorientierte Vorschläge für die Herde erhalten. Dies spart Zeit, reduziert Verluste und erhöht die Effizienz. Durch die Kombination aus technologischer Innovation und gezielter Öffentlichkeitsarbeit soll das Projekt somit dazu beitragen, die Landwirtschaft zukunftssicher zu gestalten und das Verständnis für die Branche in der Gesellschaft zu verbessern.
Fazit
Neue Messmethoden, unterstützt durch Big Data und moderne KI-Technologien, bieten Landwirten in Zukunft wertvolle Werkzeuge, um aktuelle Herausforderungen zu meistern. Durch präzise Analysen und praktische Handlungsvorschläge können Landwirte ihre Herden besser überwachen und fundierte Entscheidungen treffen. Projekte wie „HoliCow“ sollen zeigen, wie Digitalisierung die Effizienz und Nachhaltigkeit von Milchviehbetrieben steigern kann.




