Seit Oktober 2020 gibt es im Kieler Tierheim Uhlenkrog das Projekt „Kinder lesen Katzen vor“. An jedem Montagnachmittag sind dort Mädchen und Jungen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren willkommen, die ihre Lesefähigkeit verbessern wollen.
Schon Tage vorher hat Mika sich ganz doll auf diesen Moment gefreut. Mit einem Sitzkissen und einem Buch unter dem Arm betritt der Neunjährige an diesem Montag um 15 Uhr das Katzenhaus. Er hat seinen Vorleseausweis dabei, denn für jeden Besuch erhält er einen Pfötchenstempel. Genau 20-mal kann er kommen, dann rücken andere leseschwache Kinder von der Warteliste nach. „Ich habe dir heute die zuckersüßen Yuki und Milky zum Vorlesen ausgesucht, weil sie ein so schönes, weiches Fell haben“, begrüßt Projektleiterin Dagmar Joppich den Jungen und stempelt den Ausweis ab.
Die 67-Jährige ist eine von über 350 ehrenamtlichen Tierheim-Mitarbeiterinnen und organisiert mit viel Herzblut und drei weiteren Kolleginnen die Vorlesestunden. Natürlich hat sich Mika zuvor die Hände gewaschen, jetzt streift er schnell ein Paar Einwegschuhe über und los geht’s! Er öffnet vorsichtig die Tür zu „Susannes Katzenstübchen“, in dem Yuki und Milky bis zur Vermittlung ein vorübergehendes Zuhause gefunden haben, und schlüpft hindurch.
Nun ist er mit den beiden allein. Dagmar Joppich und seine Mutter behalten ihn nur aus der Entfernung im Auge. Mika soll sich ohne Druck und Stress, völlig unbeobachtet und frei fühlen. Er setzt sich mit seinem Kissen auf den Boden. Die Samtpfötchen nehmen ihn sofort wahr und umschleichen ihn neugierig. Der Viertklässler sagt leise Hallo und hält ihnen eine offene Hand hin. Sie schnuppern daran, stupsen sie leicht an, reiben ihr Köpfchen an seinem Arm – und schon bricht das Eis. Behutsam wagt Mika ein erstes Streicheln und strahlt dabei glücklich über beide Ohren. Kätzchen und Kind genießen die zarte Annäherung sichtlich. Berührend! Mika schlägt nun seine mitgebrachte Lieblingslektüre „Verschollen im Berschmudadreieck“ auf Seite zehn auf. Er beginnt, konzentriert, entspannt, im eigenen Tempo, immer flüssiger und sicherer zu lesen: „Sally bellte fröhlich und leckte ihm über die Wange. Sie wusste, dass sie ein neues Zuhause gefunden hatte …“
Vor über einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen, denn es wurde bei ihm eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) festgestellt. Vor der Klasse etwas vorzulesen, war ihm unangenehm. Oft quälte er sich von Wort zu Wort. Unter diesen Umständen war es nicht einfach, ihn fürs Lesen zu begeistern. Doch da bekanntlich Übung den Meister macht, hatte seine Mutter die zündende Idee. „Über eine Arbeitskollegin erfuhr ich, dass es das Vorleseprojekt gibt. Ich dachte gleich, dass es etwas für meinen Sohn ist, und meldete ihn an“, erzählt sie. Seit Januar 2022 komme er, außer in den Schulferien, vierzehntäglich ins Katzenhaus, um wechselnden Stubentigern vorzulesen.
Das Projekt „Kinder lesen Katzen vor“ stammt ursprünglich aus den USA. Dort fanden Wissenschaftler heraus, dass es Fellnasen mögen, wenn man ihnen vorliest. Sie profitieren von dem rhythmischen Klang der Stimme, die laut Studien beruhigend auf sie wirke. Sie können dabei herrlich entspannen. Die Scheuen wagen sich sogar ein bisschen aus der Deckung, die Zutraulichen genießen die zugewandte Stimmung, die obendrein auch für die vorlesenden Kinder heilsam ist. „Ich mag das sehr, wenn ich den Katzen eine kleine Freude bereiten kann“, bestätigt Mika.
„Unser Projekt läuft, mit coronabedingten Lockdowns, seit knapp zweieinhalb Jahren. Es ist großartig zu sehen, wie gut den Kindern und Katzen das Vorlesen tut“, bekräftigt Dagmar Joppich. Besonders beeindrucke sie das Einfühlungsvermögen der zurzeit zwölf Vorlesekinder. „Sie respektieren die Eigenart jeder Samtpfote, und dafür bedanken diese sich mit dem allergrößten Vertrauen“, stellt sie heraus. Die Mädchen und Jungen könnten aber nicht nur das Lesen üben, sondern gleichzeitig viel über Katzen, Tierschutz und Tiere im Allgemeinen lernen. „Aus ihnen werden später ganz bestimmt tolle Tierhalter und Tierschützer“, ist sie überzeugt.
Ein weiterer positiver Nebeneffekt komme hinzu. Bei Fundkatzen, die im Tierheim landeten, sei häufig nicht bekannt, ob sie „kinderkompatibel“ sind. „In solchen Fällen versuchen wir, Vorlesekinder und die betreffenden Katzen zusammenzubringen, wenn seitens der Tierpfleger vermutet wird, dass es klappen könnte. Und ja, bis jetzt hat es immer geklappt“, beobachtete die Projektleiterin. Dass die Vermittlungschancen der kleinen tierischen Kreaturen erheblich stiegen, wenn man genau wisse, dass sie Kinder mögen, verstehe sich von selbst.
Mika ist mittlerweile auf Seite elf seiner Geschichte rund um den Helden Paluten angekommen. Yuki und Milky haben sich währenddessen ausgiebig geputzt und es sich in seiner Nähe bequem gemacht. Sie sind ein geduldiges Publikum, dösen gemütlich und tiefenentspannt vor sich hin. Für eine Weile liegt Katzendame Yuki dicht an den jungen Vorleser geschmiegt da und lauscht andächtig. Sie beehrt ihn sogar liebevoll mit einem Nasenkuss. Milky klettert auf ein Regal und schnuppert von hier oben an seinem Haar. Die Zeit vergeht wie im Flug. Bald ist es 15.30 Uhr. Die 30 min Lesezeit, die jedem Kind zur Verfügung stehen, neigen sich dem Ende zu. Die zwei Kätzchen wollen ihren Vorlesekumpel aber noch nicht gehen lassen. Spontan legen sie mit ihm ein paar fröhlich-unbeschwerte Spielminuten ein. Mika ist begeistert. „Mama, das sind jetzt meine neuen Lieblingskatzen!“, ruft er beim Verlassen des Katzenstübchens. Er fand es schön, dass er die Gelegenheit hatte, einmal einen längeren Text am Stück zu lesen und zu üben. „In der Schule sind wir immer nur reihum mit zwei Sätzen dran.“
Seit er zu den kuscheligen Vierbeinern gehe, habe er sich im Unterricht erheblich verbessert. „In der Klasse mussten wir mal etwas vorlesen. Da hab‘ ich gemerkt, dass ich nicht mehr so aufgeregt bin. Ich konnte lauter und genauer lesen“, sagt der Schüler stolz. Mutter Nicole sieht ebenfalls erstaunliche Fortschritte bei seinen Lesefähigkeiten: „Mika hat jetzt nur noch eine Rechtschreib- und keine Leseschwäche mehr.“ Sie habe zudem festgestellt, dass er nach den Tierheimbesuchen besonders ausgeglichen und zufrieden sei.
Zum Schluss möchte Mika kurz zu Bastet, die einen Raum weiter residiert, um zu schauen, ob es ihr gut geht. Auch ihr hat er neulich schon vorgelesen. Insgeheim hätte er gern selbst eine Katze, aber „da ich in einer Stadtwohnung ohne Garten lebe, geht das leider nicht“. Dagmar Joppich ist dankbar und froh über die wertvollen Erfahrungen, die ihre Lesekinder mit den Tieren machen können. „Hautnah darf ich miterleben, wie sehr sie mit jedem Treffen an Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Sozialkompetenz dazugewinnen. Das finde ich klasse und es lohnt jeden Einsatz.“ Mika wirft Yuki und Milky einen letzten Blick zu und meint beim Abschied: „Das hat mir heute total Spaß gemacht. Ich freu‘ mich schon aufs nächste Mal.“