Im Jahr 2016 startete das bundesweit einmalige Projekt TiK-SH. Die Abkürzung steht für Traumapädagogik in Kindertagesstätten, in der Kindertagespflege und Familienzentren in Schleswig-Holstein. Wie es pädagogische Fachkräfte unterstützt, erfuhr das Bauernblatt in einer Krippe des Kinderschutzbundes in Heiligenhafen. Unter dem Dach des Familienzentrums Blauer Elefant werden hier Kinder ab dem Säuglingsalter betreut.
Jule (Name geändert) ging täglich mit viel Freude in ihre Krippengruppe. Doch seit einiger Zeit verhielt sich die Zweieinhalbjährige anders als sonst. Sie hatte Wutanfälle und Stimmungsschwankungen, reagierte oft impulsiv und überreizt oder zog Kinder an den Haaren. Zudem verletzte sie sich selbst. Obwohl sie schon trocken war, nässte sie ein. Einmal stopfte sie Unmengen an Toilettenpapier ins WC und sorgte damit für eine Überschwemmung. Ihr Verhalten belastete zunehmend auch die Atmosphäre in der Gruppe. Friederike Lamp, die hier als sozialpädagogische Assistentin tätig ist, und ihre Kolleginnen wollten dem Mädchen helfen, wieder in Balance zu kommen. Nachdem sie über Jule beraten hatten, entschieden sie, dafür TiK-SH mit ins Boot zu holen.
Krippenleiterin Lena Kohlsaat und ihr Team nehmen regelmäßig die Unterstützung des Projekts in Anspruch. „Wir haben damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Speziell bezüglich einzelner Kinder wie Jule, bei denen wir eine fachliche externe Beratung für sinnvoll halten, wenden wir uns vertrauensvoll an TiK-SH“, betont sie. Die meisten Mitarbeiterinnen hätten daneben schon an einer eintägigen Inhouse-Infoveranstaltung zu Grundlagen der Traumapädagogik teilgenommen.
Um darüber zu informieren, wie das Projekt in der Praxis läuft, sind an diesem Freitagmittag neben Friederike Lamp und Lena Kohlsaat zwei weitere Fachkräfte in die Einrichtung gekommen: vom Kompetenzzentrum Kinderschutz beim Landesverband des Kinderschutzbundes in Kiel Gesche Frenzel, Projektleitung der Region Ost, sowie die Koordinatorin der Regionalstelle Kreis Ostholstein und Ansprechpartnerin vor Ort, Jutta Bischoff-Menezes. Gesche Frenzel informiert einleitend darüber, dass die Umsetzung des Projekts landesweit durch drei Träger erfolgt, die mit einem einheitlichen Qualitätsstandard ein unentgeltliches, maßgeschneidertes Angebot von Beratung vor Ort, Fortbildung und Supervision bereithalten. In der Region Nord-West ist das das Rendsburger Institut für berufliche Aus- und Fortbildung gGmbH (IBAF), für die Region Süd der Verein Wendepunkt mit Sitz in Elmshorn und für die Region Ost der Deutsche Kinderschutzbund Landesverband Schleswig-Holstein.
Das vom Sozialministerium finanzierte und geförderte Programm entstand anlässlich der Flüchtlingswelle 2015 als Reaktion auf die Ankunft vieler geflüchteter Familien im nördlichsten Bundesland. Ziel war, das pädagogische Fachpersonal im Umgang mit Kindern, die Traumata durch Flucht und Migration erlebt hatten, zu unterstützen und ihnen so zu mehr Handlungssicherheit zu verhelfen. „Unser Fokus erweiterte sich in den vergangenen Jahren jedoch auf alle Kinder, die ein Trauma erlebt haben. In fast jeder Kita gibt es Mädchen und Jungen mit hochbelastenden Erfahrungen, auch jenseits von Flucht“, stellt die Diplom-Pädagogin heraus.
So könnten körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen, permanente Demütigungen, Vernachlässigung, das Erleben häuslicher Gewalt zwischen den Eltern sowie chronische Stresserfahrungen bei Kindern tiefe seelische Verletzungen hinterlassen. Sie erlebten Angst, existenzielle Verunsicherung und tiefgreifende Ohnmachtserfahrungen. „Solche hochbelastenden und traumatisierenden Erlebnisse lösen häufig ein auffälliges Verhalten oder psychosomatische Beschwerden aus“, gibt sie zu bedenken. Was die Kinder dann brauchten, sei ein äußerer sicherer Rahmen und ein professionelles Umfeld, das sie gezielt stabilisieren und ihre Ressourcen mobilisieren könne. „Sie benötigen Bezugspersonen, die die besonderen, herausfordernden Verhaltensweisen als Reaktion auf ein Trauma verstehen und die wissen, dass sie zu einer Überlebensstrategie gehören, um wieder Kontrolle über den Alltag zu gewinnen“, erklärt die Projektleiterin.
Aber zurück zu Jule. Nach der Teambesprechung rief Lena Kohlsaat die Koordinatorin Jutta Bischoff-Menezes an und vereinbarte einen Termin. Im Rahmen einer Fallbesprechung erarbeitete die Heilpädagogin mit dem Team anschließend mögliche Handlungsschritte. Zuvor hatte Friederike Lamp mit Jules Mutter gesprochen und erfahren, dass sie mit ihrem Ehemann gerade in einer noch ungeklärten, konfliktreichen Trennungssituation sei und es zu Auseinandersetzungen gekommen sei. Diese hätten nicht vor den Augen der Tochter stattgefunden, trotzdem sei es nicht auszuschließen, dass sie davon etwas mitbekommen habe.
Mit Jutta Bischoff-Menezes versetzten sich die Mitarbeiterinnen in Jules Lage. Sie fragten sich: Was will sie mit ihrem Verhalten bewirken? Welchen guten Grund hat sie, sich so zu verhalten? Sucht sie nach Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Orientierung? Wie kann es uns gelingen, sie zu beruhigen, zu stabilisieren und ihren Stress zu reduzieren? Wie kann sie spüren, dass sie in der Krippe verlässliche Bezugspersonen hat? Die externe Expertin gab hierzu wertvolle fachliche Hintergrundinfos und Anregungen. Sie erläuterte ebenso, was aus neurologischer Sicht im Gehirn der hochbelasteten Jule ablief. Mit diesem Wissen gelang es dem Team, neue Ideen und Sichtweisen zu entwickeln, wie es dem Kind helfen könnte. „Wir schauten zum Beispiel, dass Jule positive Erfahrungen machen konnte, die ihr Selbstwertgefühl stärkten und das Vertrauen in eigene Fähigkeiten weckten. So baten wir sie um die Erledigung kleiner Aufgaben, wie das Helfen beim Tischdecken oder das Holen von Sitzkissen für unseren Morgenkreis“, blickt Friederike Lamp zurück. In einem Zeitraum von etwa einem halben Jahr gelang es, Jule so weit zu stärken, dass sie sich besser entspannen und ihre Bedürfnisse meist angemessen äußern konnte. Dazu trug ein gemeinsam mit den Betreuerinnen bestücktes Kästchen bei, in das sie unter anderen einen Igelball und einen Massagering legte, die sie selbst zusätzlich einsetzen konnte, um ihre Emotionen zu regulieren.
Durch die Fallbesprechung fühlte sich Friederike Lamp entlastet und gestärkt. „Wenn ich verstehe, dass das Verhalten eines Kindes einen guten Grund hat, muss ich es nicht mehr persönlich nehmen und auf mich beziehen. Ich muss es nicht als Provokation oder Angriff deuten oder als Folge eines eigenen Überforderungsgefühls, sondern habe eine neue Idee, wie ich damit umgehen kann.“ Jutta Bischoff-Menezes ist froh, dass sie dem Team mehr Handlungssicherheit und -kompetenz vermitteln konnte. „Um unterstützend und hilfreich mit Kindern arbeiten zu können, ist es wichtig, dass sich die pädagogischen Fachkräfte auch um ihre eigene psychische Stabilität und Widerstandskraft kümmern. Sie sollten, wenn es für sie im Berufsalltag schwierig wird, Unterstützung holen, um selbst in Balance zu bleiben. Nur dann können sie als Vorbild im Dialog mit den Kindern fungieren“, ist sie überzeugt.
Info
Die Unterstützung durch TiK-SH wurde vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine erweitert auf ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeitende in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete sowie auf Haupt- und Ehrenamtliche, die in anderen Bezügen mit geflüchteten Menschen arbeiten. Außerdem wurden die Angebote für Eltern beziehungsweise Bezugspersonen von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Familienzentren in Form von Infoveranstaltungen („Mit Kindern über den Krieg sprechen“) ergänzt. Weitere Informationen unter tik-sh.de, bei den Trägern ibaf.de, wendepunkt-ev.de und kinderschutzbund-sh.desbk