In Deutschland leben 6,2 Millionen Erwachsene, die als sogenannte funktionale Analphabeten gelten. Sie können kaum lesen und schreiben. Einer von ihnen ist Uwe Boldt. Doch er holte sich Unterstützung. Heute hilft der gebürtige Hamburger auch anderen Betroffenen und macht durch Öffentlichkeitsarbeit auf das Tabuthema aufmerksam.
Wieder und wieder drehte Uwe Boldt an diesem Tag im Jahr 2000 seine Runden um das „Alfa-Mobil“, das auf einem Marktplatz in Hamburg Station machte. Es war mit einer mobilen Alphabetisierungs-Initiative deutschlandweit unterwegs, um Erwachsenen, die besser lesen und schreiben lernen wollten, Wege aufzuzeigen, Vorurteile abzubauen und über Analphabetismus zu informieren.
Uwe Boldt schaute sich das rege Geschehen am Informationsstand zunächst aus sicherer Entfernung an. Er wartete, bis es hier langsam ruhiger wurde, nahm all seinen Mut zusammen und ging hin. Der damalige Mitarbeiter Timm Helten begrüßte ihn freundlich. Der Diplom-Pädagoge informierte ihn in einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch darüber, dass es an der Volkshochschule (VHS) Kurse für Erwachsene gebe, die besser Lesen und Schreiben lernen wollten. „Ich war erst skeptisch, ob eine Volkshochschule tatsächlich das Richtige für mich war, meldete mich aber an“, blickt Boldt zurück.
Heute ist er selbst „Lernbotschafter“ und steht am Alfa-Mobil, um anderen Betroffenen Mut zu machen. „Ich erkenne schon von Weitem, wenn einer da ist, der unsicher um das Fahrzeug herumläuft und sich nicht traut näherzukommen. Dann spreche ich ihn an. Manchmal ist die Scham einfach zu groß, sich zu outen, oder man befürchtet, bloßgestellt zu werden“, weiß er aus eigener Erfahrung. Aber von vorn.
Uwe Boldt wächst als Ältester von drei Geschwistern in Hamburg auf. Seine Eltern arbeiten hart, die Mutter ist Reinemachefrau, der Vater Schauermann am Hafen, wo er für das Be- und Entladen von Schiffen zuständig ist. Nur selten finden die beiden Zeit und Kraft, mit ihrem Nachwuchs Bücher anzuschauen oder ihnen daraus vorzulesen.
In der Schule merkt der kleine Uwe bald, dass ihm das Lesen- und Schreibenlernen schwerfällt. Oft wird er deshalb von Mitschülern gehänselt. Seine Eltern registrieren zwar das Problem, handeln aber nicht. „Wenn sie damals gewusst hätten, wie sie mir helfen können, hätten sie es getan“, ist der 65-Jährige überzeugt. Doch sie wissen es nicht, und so sitzt er im Klassenraum in der hintersten Reihe und fällt nicht weiter auf.
Keiner der Lehrer kommt auf die Idee, den Jungen beiseitezunehmen und zu fördern. Da er sich mündlich stets lebhaft am Unterricht beteiligt, teilweise auswendig lernt, was der Lehrer an Lernstoff vermittelt, wird er trotzdem in die nächsten Klassen versetzt. „,Aus pädagogischen Gründen‘ stand in meinem Zeugnis. Was das genau heißt, weiß ich bis heute nicht.“ Nachdem er die achte Klasse wiederholt hat, geht er nach neun Schuljahren ohne Abschluss von der Schule. Er ist zirka 16 Jahre alt, richtig lesen und schreiben kann er nicht. „Ich ging zum damaligen Arbeitsamt, und die schickten mich als Jungarbeiter in den Hafen. Da machte ich erst einmal nur Botengänge, denn ich war ja noch nicht volljährig.“
Bei seinem zukünftigen Arbeitgeber stellt der Jugendliche sich persönlich vor, sodass er um eine schriftliche Bewerbung herumkommt. Einmal, da ist er etwa 20 Jahre alt, spricht er den Hausarzt auf sein Problem an. Dieser will ihm zwar helfen, doch die vorgeschlagenen, nicht passgenauen Angebote laufen ins Leere.
Auch wenn er kaum lesen und schreiben kann, macht sich der junge Boldt gut im Hamburger Hafen. Er wird Hafenfacharbeiter und später Kran- und Containerbrücken-Fahrer. Soll er Arbeitsprotokolle schreiben, bittet er Kollegen, es für ihn zu übernehmen. „Ich machte den Führerschein, den Staplerschein, den Großstaplerschein und den Tauchschein. Das schaffte ich mit viel Auswendiglernen und mit Prüfungsbögen, bei denen ich nur etwas ankreuzen musste, mein Lesen ging ja so.“
Doch die Furcht aufzufliegen, ist ein ständiger Begleiter. Was, wenn er zum Beispiel in einer Arztpraxis einen Anamnesebogen ausfüllen, bei einer Behörde etwas regeln oder Arbeitsanweisungen lesen muss? „Ich hatte meine Strategien und Ausreden, wurschtelte mich durch, sagte, ich hätte mir die Hand verstaucht oder die Brille vergessen, und fragte dann, ob man mir helfen könnte.“ Eines Tages macht er bei einer großen Kampagne „Gemeinsam stark“ im Hafen mit und erzählt dort offen über sein Leben.
Nach der Veröffentlichung der Dokumentation ist es „raus“, dass er Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat. Sein Chef reagiert verständnisvoll. „Wir setzten uns hin und sprachen über die Sache.“
Als er seine erste Frau kennenlernt, mit ihr nach Lüneburg zieht, erzählt er ihr erst spät davon. Sie nimmt es gut auf, unterstützt ihn, bis die Beziehung nach sieben Jahren zerbricht. Als Uwe Boldt im Jahr 2000 seine berufliche Position im Hafen wechselt, ist klar, dass er nun durch die fortschreitende Automatisierung ums Lesen und Schreiben nicht mehr herumkommt. Also geht er zur VHS und büffelt mit Gleichgesinnten.
Er fängt an, sich ehrenamtlich zu engagieren, gründet mit anderen die Selbsthilfegruppe „Wortblind“, ruft das Projekt „Mento“ rund ums Thema Schriftkompetenz beim DGB-Bildungswerk mit ins Leben, wird Lernbotschafter beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung und Mitglied in einem Lernerrat, der Unternehmen über Analphabetismus aufklärt.
Ein Schlüsselerlebnis hat er dort, als es ihm während eines Lerner-Austausches und Workshops in Belgien mit Betroffenen aus sieben Nationen gelingt, den ersten Liebesbrief seines Lebens zu schreiben. „Meine damalige Frau hat sich sehr darüber gefreut.“ Boldt macht jedoch ebenfalls die Erfahrung, dass er stetig am Ball bleiben muss, um Erlerntes nicht wieder zu verlernen. „Manchmal hatte ich einen Durchhänger und war lernmüde. Das merkte ich dann gleich“, gesteht er. Seiner zweiten Frau, die Erzieherin ist, berichtet er schon bald von seinem Problem. „Sie half mir, bestand aber darauf, dass ich Dinge zunächst selbst versuchte, bevor sie ins Spiel kam.“ Heute liest er kürzere Texte und schreibt kleinere Sätze. „Ich bin auf dem Alpha-Level zwischen drei und vier“, sagt er. Was das bedeutet? Um Unterstützungsangebote zur Überwindung des funktionalen Analphabetismus passgenau anbieten zu können, ist es wichtig, die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen zu kennen.
Dafür wurden im Rahmen einer Studie vier sogenannte Alpha-Level definiert und die damit verbundenen Kompetenzen beschrieben. Die Grenzen zwischen den einzelnen Leveln sind fließend. Alpha-Level 1 bedeutet beispielsweise, dass eine Person einzelne Buchstaben erkennen und schreiben kann.
Uwe Boldt liest einzelne Sätze und schreibt sie, hat jedoch Schwierigkeiten mit zusammenhängenden Texten. Seine Rechtschreibung weist etliche Fehler auf. Damit findet er sich im Alltag zurecht. Smartphone und PC sind ihm eine wertvolle Stütze. Auf ihnen kann er Videoanrufe empfangen, sich Texte vorlesen lassen oder ein spezielles Lernprogramm für Menschen mit Grundbildungsbedarf (vhs-lernportal.de) absolvieren.
Seit Januar 2023 ist der mittlerweile Alleinstehende im Ruhestand und dennoch ehrenamtlich unermüdlich in Sachen Aufklärung über Analphabetismus im Einsatz. Weil er gerade mit dem Bauernblatt spricht, verrät er zum Abschluss des Treffens, dass er bereits seit seinem 15. Lebensjahr auf Zuruf auf einem landwirtschaftlichen Betrieb im Kreis Herzogtum Lauenburg aushilft und sich dort sehr wohlfühlt. „Dem Bauern war es egal, ob ich lesen und schreiben kann. Er nahm mich so wie ich bin, erklärte mir alle Aufgaben wie Getreidefahren oder Ernteabladen mündlich. Hier gehöre ich bis heute fast zur Familie, obwohl der Junior schon den Hof übernommen hat.“
Eine Erkenntnis will Uwe Boldt auch an andere Betroffene weitergeben: „Nur eine Schwäche zu haben, bedeutet nicht, dass ihr dumm seid! Holt euch Hilfe, macht aus eurer Schwäche eine Stärke und blickt dabei immer positiv nach vorn.“
Info
Weitere Informationen gibt es unter alphabetisierung.de, mein-schlüssel-zur-welt.de oder alfa-mobil.de.
Alfa-Telefon: 0 800-53 33 44 55 (anonyme, kostenfreie Beratung für Betroffene und deren Umfeld)
Anmerkung: Liebe Leserinnen und Leser, sollten Sie eine Person kennen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, weisen Sie diese gern auf die hier genannten Hilfsangebote und Infos hin. sbk