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Brücken bauen kann man nur im Tal

Editorial zu Ostern
Von Tonio Keller
Alte Steinbrücke „Ponte della Pia“ bei Rosia in der Toskana.  Foto: privat

Gedanken zu Ostern wollen sich dieses Jahr nicht so recht in Frühlingsgefühle kleiden, in ein munteres Hoffnungslied angesichts sprießender Knospen in der Natur – jeder weiß, warum. Dennoch gibt es auch positive Tendenzen. Viele Menschen rücken angesichts der gegenwärtigen Krisen zusammen, kooperieren, suchen gemeinsam nach Lösungen, lassen kleinliche Meinungsverschiedenheiten und persönliche Vorteilssuche beiseite.

Dem gegenüber stehen diejenigen, die sich verhärten, andere verurteilen, mitunter in schärferem und unversöhnlicherem Ton denn je. Diese Spaltung in der Gesellschaft spitzt sich zu. Das hat womöglich noch schädlichere Wirkungen als die Krisen selbst.

Zu diesem Phänomen kam mir auf einer Wanderung das folgende Bild: Ich raste an einem Höhenweg. Gegenüber liegt ein anderer Berg­zug. Der Gedanke: Berge könnten nicht bestehen ohne das Tal dazwischen.

Die Berge symbolisieren einander widersprechende Welt­anschauungen. Sie ragen als Gipfel stolz empor. Weniger spektakulär sind gemäßigte Sichtweisen. In diesem Bild werden sie repräsentiert durch das Tal. Sie entsprechen jedoch einem größeren Bevölkerungsanteil. Auch in echten Gebirgen wohnen ja die meisten Menschen im Tal – zumindest heutzutage.

Sie werden von den Bergen aus entweder nicht gesehen oder als manipulierte Mitläufer abgetan. Es sind Menschen, die im Zwiespalt sind, die sich so oder anders entscheiden oder in einem halben Jahr anders als heute. Es sind Menschen, die nicht so genau wissen, was richtig ist, die in einer Krise vielleicht ratlos sind, aber sich dennoch zu ihr irgendwie verhalten müssen. Im besten Fall sind es Menschen, die anderes Verhalten akzeptieren, mit An­dersdenkenden vielleicht diskutieren, aber ihnen keine Vorschriften machen und sie schon gar nicht verurteilen. Letztlich sind es die Menschen, mit denen wir zum Großteil leben.

Vom hohen Bergrücken aus gesehen werden sie mitunter als „Mainstream” bezeichnet. Da schaut man hinunter auf die vielen, die da mitschwimmen: „Tief unten wabert die doofe Masse!“ Dabei wird übersehen: Wer vom Berg­rücken aus die Leute im Tal „von oben ­herab“ verachtet, übersieht, dass es die Arbeit dieser Leute ist, die die Voraussetzungen dafür schafft, dass er als Wanderer oder Berg­bauer in der Höhe existieren kann. Wer aber ist konkret Main­stream? Meine Nachbarn? Meine Verwandten? Mein Bäcker? Ich selbst? So unterschiedlich sie sind, alle Mainstream? Ich selbst bin es dann wohl ganz gewiss!

Brücken bauen kann man nur im Tal – in dem Bereich, der allen gemeinsam und zugänglich ist. Diese Brücken kann man aber nur beschreiten, wenn man ab und zu vom Berg herunterkommt.

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