Ob Kindererziehung, Hausarbeit, Ehrenamt oder die Pflege von Angehörigen: Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt 44,3 % mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer, so das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Was das konkret bedeutet, darüber sprach das Bauernblatt mit Jutta Schmidt-Neider. Jahrelang pflegte sie mit großem Einsatz ihren erkrankten Ehemann.
Jutta Schmidt-Neider sitzt in einem Café, nippt an einem Kaffee und freut sich auf das Eis, das vor ihr steht. „Lange Zeit wusste ich gar nicht mehr, was ich möchte und was mir guttut. Ich funktionierte nur, konnte nichts mehr genießen“, meint sie nachdenklich. Heute habe sie wieder Kraft zum Agieren gewonnen. Doch von vorn.
Seit 38 Jahren ist sie mit ihrem Mann Lutz verheiratet. Die beiden sind Eltern eines Sohnes und Großeltern eines zweijährigen Enkelkindes. Ende 2010 traten bei Lutz Neider erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung auf. Ein Psychiater diagnostizierte eine Psychose. „Er verschrieb Medikamente und riet zu einem stationären Klinikaufenthalt, den Lutz aber ablehnte“, blickt Jutta Schmidt-Neider zurück. Kurzerhand entschied sich die examinierte Krankenschwester, die damals in Teilzeit arbeitete, ihren Mann selbst zu Hause zu versorgen. „Nach einigen Monaten stabilisierte er sich und konnte in seinen Beruf als Gymnasiallehrer zurückkehren. 2014 ging er in Pension“, berichtet die 67-Jährige.
Im Frühjahr 2015 bemerkte sie erneut, dass ihr Mann sich vom Wesen her veränderte. „Er zog sich zurück, hatte an nichts mehr Interesse, lag nur im Bett. Irgendwann bat er mich, ihn in eine Klinik zu bringen, er könne nicht mehr. Nach einem mehrwöchigen stationären Aufenthalt ging es ihm langsam besser.“
Psychisch belastet
Jutta Schmidt-Neider macht gedanklich einen Sprung ins Jahr 2020. „Da kam Lutz wieder in eine psychiatrische Fachklinik. Er litt zunehmend an Wahnvorstellungen, verhielt sich ungewöhnlich, verlernte Dinge wie das Autofahren und fand sich im Leben immer schlechter zurecht. Ebenfalls äußerte er unserem Sohn gegenüber Suizidgedanken.“
Für die besorgte Ehefrau bedeutete dies eine anhaltende psychische Belastung und Anspannung. „Ich musste aufpassen, dass Lutz ,keinen Blödsinn anstellte‘, dass nichts Schlimmes passierte. Nach dem Klinikaufenthalt konnten wir jedoch hoffnungsvoll nach vorn schauen. Er war medikamentös gut eingestellt und auch seelisch wieder gut drauf.“
Aber dann kam der 10. Dezember 2020. Lutz Neider verließ an diesem Tag das Haus, um eine Runde mit dem Rad zu fahren. „Als er nach zweieinhalb Stunden noch nicht zurück war, wurde ich unruhig. Plötzlich stand die Polizei vor der Tür. Sie teilte mir mit, dass mein Mann einen schweren Unfall gehabt hätte und nun im Uniklinikum liege.“ Nach einer knapp zweiwöchigen stationären Behandlung wurde er schließlich einen Tag vor Weihnachten entlassen. Doch er blieb gesundheitlich schwer angeschlagen, zeigte nun unter anderem Symptome einer Demenz. 2021 kam zu den anhaltenden Unfallfolgen ein Prostatakrebs hinzu. „Pflegerisch war ich voll in der Verantwortung. Seine Mobilität, seine Körperfunktionen und seine kognitiven Fähigkeiten waren stark eingeschränkt. Es folgten zwar etliche Nachbehandlungen und Klinikaufenthalte, aber es ging einfach nicht mehr bergauf.“ Während Jutta Schmidt-Neider über die damaligen Geschehnisse spricht, wird rückblickend deutlich, dass sie mit der Pflege und Betreuung ihres Mannes immer öfter an eigene Grenzen der Belastbarkeit stieß, zumal sie selbst gesundheitliche Schwierigkeiten hat, schon einen Infarkt erlitt.
Als die psychischen Probleme ihres Mannes erstmals auftraten, holte sie sich nach einiger Zeit Hilfe von außen und trat einer Angehörigen-Selbsthilfegruppe bei. Zudem nahm sie 2017 an einer Schwerpunktkur für Angehörige psychisch Erkrankter teil. „Diese Auszeit tat mir gut und baute mich wieder auf“, erinnert sie sich.
Professionelle Hilfe
Sie fühlte, dass sie nun 2021 an einem Punkt angekommen war, an dem sie erneut professionelle Unterstützung brauchte. „Ich war völlig erschöpft, konnte kaum schlafen, weinte viel, machte mir andauernd Sorgen. Das Gedankenkarussell raste, meine Nerven lagen blank. Hinzu kam, dass gute Freunde begannen, sich von uns zurückzuziehen. Das tat weh“, gesteht sie.
Foto: Silke Bromm-Krieger
Sie beschloss, einen Psychotherapeuten zu kontaktieren, und hatte Glück, dass bei ihm zeitnah Termine frei waren. „Mit dem Therapeuten, einem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, konnte ich vertrauensvoll über meine Situation sprechen. Zusammen entwickelten wir mögliche Lösungsansätze. Dabei machte er darauf aufmerksam, dass ich auch an mich denken müsse, um nicht selbst psychisch krank zu werden“, erzählt sie.
Als ihr Mann ein weiteres Mal in die Klinik musste, besprach Jutta Schmidt-Neider deshalb mit dem behandelnden Oberarzt, der Kliniksozialarbeiterin und ihm, wie es nach seiner Entlassung weitergehen sollte. „Ich sagte Lutz schweren Herzens, dass ich es nicht mehr schaffe, ihn zu Hause zu betreuen, und schlug stattdessen eine Pflegeeinrichtung in der Nähe für ihn vor. Mein Mann stimmte dem nach einigen Gesprächen zu.“ Auch wenn ihr dieser Schritt nach Jahren steter liebevoller Fürsorge unendlich schwerfiel, sie Schuldgefühle plagten, war sie erleichtert, dass nun eine Entscheidung getroffen war, die sie entlasten würde und die auch ihr Mann mittragen konnte.
Seit August 2022 lebt Lutz Neider nun in einem Altenheim. Der 74-Jährige hat sich hier prima eingelebt. Mit den Mitbewohnern und Pflegefachkräften versteht er sich bestens. Jutta Schmidt-Neider hat das Eigenheim des Paares mittlerweile verkauft und ist in eine Wohnung gezogen. Regelmäßig besucht sie ihren Mann, spielt mit ihm Karten, geht mit ihm spazieren und regelt für ihn mit einer Generalvollmacht alles, was ansteht. Weiterhin begleitet sie ihn zu Arztterminen.
Anderen Mut machen
Ihr Leben hat sich verändert. „Langsam blitzt die alte Jutta von früher wieder durch“, konstatiert sie. Sie hat angefangen, Kontakte zu Freundinnen wiederzubeleben, kleine Reisen zu unternehmen und neue Hobbys für sich zu entdecken. Ebenso hat sie die schmerzliche Herausforderung angenommen, sich von ursprünglichen gemeinsamen Plänen für den Ruhestand mit ihrem Mann zu verabschieden. „Ohne meinen Psychotherapeuten, der mir den Rücken stärkte, hätte ich das nicht geschafft“, bekennt sie. Auch anderen pflegenden Angehörigen will sie Mut machen, sich ehrlich einzugestehen, wenn die eigenen Kraftreserven für die Pflege irgendwann erschöpft sind. „Es ist wichtig und richtig, sich dann professionelle Hilfe von außen zu holen, bevor nichts mehr geht“, ist sie überzeugt.
Gender Care Gap
Der Gender Care Gap zeigt den unterschiedlichen Zeitaufwand, den Frauen und Männer ab 18 Jahren für unbezahlte Sorgearbeit aufbringen. Die Tätigkeiten umfassen sämtliche Arbeiten in Haushalt und Garten, die Pflege und Betreuung von Kindern und Erwachsenen sowie ehrenamtliches Engagement und unbezahlte Hilfen für andere Haushalte. Dabei werden mögliche Anfahrtszeiten mit einbezogen.
Der Gender Care Gap beträgt aktuell 44,3 %. Männer verbringen demnach pro Woche knapp 21 Stunden und Frauen knapp 30 Stunden mit unbezahlter Sorgearbeit. Das bedeutet: Frauen bringen deutlich mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf – Zeit, die ihnen für eine mögliche Erwerbstätigkeit fehlt. Für Frauen ergeben sich dadurch wirtschaftliche Nachteile in Bezug auf ihre Entlohnung, ihre beruflichen Chancen, ihre ökonomische Eigenständigkeit und letztlich auch ihre Alterssicherung. Dies heißt im Umkehrschluss: Wenn die unbezahlte Sorgearbeit gerechter zwischen Frauen und Männern verteilt werden würde, könnten Frauen – genauso wie Männer – wirtschaftlich eher auf eigenen Beinen stehen, auch bei veränderten Lebensumständen wie Trennung oder Scheidung.
(Quelle: BMFSFJ)