Die Dienstzeit von Stephan Gersteuer, Generalsekretär des Bauernverbandes Schleswig-Holstein (BVSH), endet am 30. April – nach 37 Jahren Einsatz für die Landwirtschaft und den ländlichen Raum. Über seine Erlebnisse und einschneidende Ereignisse sprach er im Interview mit dem Bauernblatt.
Wie sind Sie zum Bauernverband gekommen?
Ich hatte damals die Qual der Wahl. Meine Bewerbung als Richter in Schleswig-Holstein wäre positiv beschieden worden, wie ich hinterher erfahren habe, und ich wäre ans Landgericht Lübeck gekommen. Der Vorsitzende meiner Prüfungskommission war zugleich Vizepräsident des Oberlandesgerichts Hamburg und hatte mir angeboten, Richter in Hamburg zu werden. Und ich hatte als Referendar eine Station im Innenministerium, das mich auch gern haben wollte. Zum Verband kam ich mehr durch Zufall. In der Zeit zwischen schriftlicher und mündlicher Prüfung habe ich in der Kanzlei meines Vorgängers Peter Paulsen und seiner Frau gejobbt. Als ich meine mündliche Prüfung absolviert hatte, sprach er mich an, ob ich nicht zum Bauernverband kommen wolle. So hatte ich eine vierte Möglichkeit und ein sehr hartes Wochenende, weil ich ahnte: Die Entscheidung, die du jetzt triffst, wird deinen Lebensweg bestimmen. Heute bin ich mir sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Meine Tätigkeit beim Bauernverband ist höchst abwechslungsreich und fordernd gewesen. Aber ich habe mich immer sehr gern für die Bäuerinnen und Bauern eingesetzt und für die bäuerlichen Familien gearbeitet, weil das fast ausschließlich hochanständige Leute sind. Nach meiner Überzeugung führt das Arbeiten in der Natur und mit den Tieren dazu, dass man im positivsten Sinne bodenständig ist.
Welche Verbindung zur Landwirtschaft hatten Sie damals?
Meine Familie ist nach Schülp bei Rendsburg gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Ich bin also auf dem Dorf aufgewachsen. Ein guter Freund von mir kam von einem Milchviehbetrieb, wo ich in der Jugend mitgeholfen habe. Ich kannte also den ländlichen Raum und die Landwirtschaft und deswegen konnte ich mir auch gut vorstellen, zum Bauernverband zu gehen, wo ich zunächst gar nicht in der Rechtsabteilung, sondern in der Abteilung Vieh und Fleisch tätig war.
Welche Ereignisse sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?
Mit der Barschel-Affäre in meiner Anfangszeit ging die lange Zeit CDU-geführter Landesregierungen vorerst zu Ende. Das war eine Herausforderung für den Bauernverband, wobei es tatsächlich gelungen ist, den Geltungsanspruch der Landwirtschaft und des Bauernverbandes auch unter SPD-geführten Regierungen aufrechtzuerhalten. Dann kamen die spannenden Jahre der Wiedervereinigung. Alles änderte sich und wir haben geholfen, in Mecklenburg-Vorpommern den Verband mit aufzubauen. Mir ist sehr eindrucksvoll in Erinnerung, wie ich mit Karl Eigen bei der Versammlung der LPG-Vorsitzenden in Mecklenburg war, wo man teilweise völlig aneinander vorbeigeredet hat, weil man aus verschiedenen Welten kam.
Im Rahmen der Wiedervereinigung ging der kommissarische Leiter der Rechtsabteilung im Verband zur Treuhand und ich habe in innerhalb von vier Tagen die Rechtsabteilung übernommen. Mir hat die Arbeit dort sehr viel Freude bereitet, weil ich gern Jurist bin und immer sehr neugierig und lösungsorientiert war. Am meisten Spaß hat es mir gemacht, wenn ich den einzelnen Betrieben konkret helfen konnte. Wir hatten zum Beispiel zweimal Fälle in Schleswig-Holstein mit Verunreinigungen von Saatgut, einmal von Raps und einmal von Mais. Die betroffenen Betriebsleiter waren deshalb in großer Sorge um ihre Ernten. Wir haben jeweils eine Interessengemeinschaft gebildet, erfolgreich mit den Saatgutherstellern verhandelt und gute Entschädigungsregeln für die Betriebe vereinbaren können.
Wie waren damals die Verbandsstrukturen im Vergleich zu heute?
Die Struktur mit den einzelnen Kreisgeschäftsstellen war mit heute vergleichbar, auch wenn es damals noch deutlich mehr Kreisbauernverbände gab – allein vier in Ostholstein und Lübeck. Aber die Arbeit mit den Landwirten ist deutlich digitaler geworden durch Mobiltelefon, E-Mail und Internet. Als ich zum Verband kam, lief praktisch alles über die gelbe Post. Das Mitglied konnte man individuell nur per Telefon oder durch einen Brief erreichen und generell nur übers Bauernblatt. Das waren die einzigen Kommunikationswege.
Was allerdings schon aufkam, war das Fax, das in den 1990er Jahren durchstartete. Das hat die Arbeit geändert. Landwirte faxten einen Vertragsentwurf und erwarteten gleich eine Antwort am Telefon. Damals war ich als Jurist noch Einzelkämpfer in der Rechtsabteilung. Mit der Zeit und der immer weiter ausufernde Bürokratie gab und gibt es immer mehr Rechtsfragen auf den Betrieben. Deswegen haben wir heute eine deutlich größere Rechtsabteilung.
Gibt es unangenehme Erinnerungen?
Was von meinen 37 Jahren beim Verband natürlich auch in Erinnerung bleibt, sind die Krisen. Sie haben die landwirtschaftlichen Betriebe vor existenzielle Herausforderungen gestellt. Ehrlich gesagt, haben wir das ein oder andere Mal diese Frage auch für den Verband selbst gesehen. Ich denke da an die MGN-Krise. Bei der Nordbutter – einem der Gesellschafter – war der Bauernverband in der geschäftsführenden GmbH beteiligt, auch personell. Die Bauern haben durch die Pleite ein Monatsmilchgeld verloren. In Hohenwestedt musste Verbandspräsident Karl Eigen vor protestierenden Milchbauern durch die Polizei geschützt werden. Das ging ins Mark.
Die BSE-Krise war tiefgreifend. Über Wochen war BSE täglich die negative Topmeldung in den Zeitungen, Abendnachrichten und Talkshows. Zwei Bundesminister verloren ihr Amt. Die Bevölkerung war völlig verunsichert. Der Rindfleischmarkt brach zusammen. Betroffene Tierbestände wurden komplett gekeult. Nicht wenige Tierhalter hatten den Alptraum, dass es am nächsten Tag auch in ihrem Stall totenstill sein könnte. Wir haben damals eine Demonstration auf dem Rendsburger Paradeplatz organisiert, bei der es mehr um den Zusammenhalt ging als um konkrete Forderungen. Wir sind zusammenzukommen und es hat den Landwirten tatsächlich geholfen zu sehen, dass man nicht allein war mit dem Problem.
Schon damals gab es das, was man heute Framing nennt: Die Schuld wurde dem „agroindustriellen Komplex“ zugeschrieben. Tatsächlich gab es aufgrund des verfütterten Milchaustauschers die meisten Fälle in kleinbäuerlichen Betrieben in Bayern. Aber alles Schlechte hat sein Gutes: Aus diesen Erlebnissen habe ich viel gelernt in Sachen Krisenmanagement und Krisenbewältigung.
Haben Sie ein Beispiel?
Als ich sehr frisch Generalsekretär war, traten Verunreinigungen von Futtermitteln auf, der sogenannte Dioxin-Skandal. Es lag ein für die Landwirte folgenreicher Verstoß vor. Aber es war sehr schnell klar, dass aufgrund des großen Verdünnungseffekts des verunreinigten Öls in der Futtermischung und im Produkt kein Risiko für die menschliche Ernährung bestand. Das hat man in den Medien aber leidlich ignoriert und lieber skandalisiert. Dabei hatte das Bundesamt für Risikobewertung sehr früh eine entsprechende Pressekonferenz abgehalten und darauf hingewiesen, dass Verbraucher sich keine Sorgen machen müssten. Es zeigte sich, dass das System, das wir in der BSE-Zeit zur Rückverfolgbarkeit aufgebaut hatten, zuverlässig funktionierte. So konnte man genau nachvollziehen, wo betroffene Futtermittellieferungen hingegangen waren.
Wie lief das Krisenmanagement im Verband mit Blick auf die Bauernproteste der vergangenen Jahre?
2019, als sich die Bauern nach den Protesten in den Niederlanden auch hier auf Schlepper gesetzt haben und erst nach Rendsburg gefahren sind und später nach Berlin, habe ich meinen Mitarbeitern gesagt, dass wir – wie in den anderen Krisen – beharrlich weiterarbeiten müssten. Das hat sich bewährt. Wir haben uns bewusst in die Schlepperproteste nicht eingemengt, weil sich die Bauern selbst organisieren wollten. Ich merkte, dass die Mitarbeiter in diesen Phasen sehr dankbar dafür waren, dass da jemand war, der Ruhe ausstrahlte.
Natürlich hat sich in den vergangenen 37 Jahren insgesamt der Führungsstil völlig verändert. Als ich zum Verband kam, da ging man nicht zum Generalsekretär, wenn man nicht gerufen wurde. Allein die Schwelle zu überschreiten zum Vorzimmer des Generalsekretärs, war ein Akt. Aber ich habe mich sehr darum bemüht, das abzubauen, um im Team zusammenzuarbeiten. Ich bin im Hauptamt vielleicht der Erste unter Gleichen, denn bisweilen muss jemand entscheiden. Für das Mittel der Ermüdungsdiskussion haben wir nicht die Zeit.
Welche Bedeutung haben aus Ihrer Sicht die räumlichen und technischen Arbeitsbedingungen in der Hauptgeschäftsstelle und den Kreisgeschäftsstellen?
Wenn man weiß, dass die Leute jeden Tag damit arbeiten sollen und die Kosten für einen PC oder einen Monitor ins Verhältnis setzt zum Jahresgehalt, dann sind das geringe, aber gut angelegte Investitionen. Je besser die technische Ausstattung ist, umso effizienter können die Leute arbeiten und umso mehr macht ihnen die Arbeit Spaß. Deswegen war es für mich immer klar, auch in eine gute digitale Ausstattung zu investieren. Wir haben von Anfang an darauf gesetzt, dass die Referenten Notebooks bekommen, damit sie mobil arbeiten können, zum Beispiel wenn sie zu Vorträgen fahren. Wir haben auch sehr früh die Kollegen mit Mobiltelefonen beziehungsweise Smartphones und Tablets ausgestattet. Man kann heute papierlos arbeiten. Ich persönlich mache das seit zehn Jahren.
Rückschauend betrachtet haben wir auch mit dem Umzug der Hauptgeschäftsstelle vom Paradeplatz an den Grünen Kamp alles richtig gemacht. Die Kammer hatte 2008 hier gebaut. Unsere Planungen und auch die Bauphase liefen unter meinem Vorgänger im Jahr 2009 an. 2010 bin ich Generalsekretär geworden und der Umzug erfolgte im Januar 2011. Es war eine große Freude, hier in dieses neue Gebäude zu kommen. Und es ist tatsächlich wichtig, auch ein repräsentatives Gebäude zu haben. Wir hatten Glück mit den Architekten, die ein Gebäude entworfen haben, das unseren Bedürfnissen auch heute noch voll entspricht. Allein der Tagungs- und Sitzungsbereich ist ein großer Gewinn für die Zusammenarbeit im Ehren- und Hauptamt.
Sie sind nicht nur Generalsekretär des Bauernverbandes. Dazu kommen die Geschäftsführung der Tochtergesellschaften Dienste und Bauernblatt sowie der MesseRendsburg und ein Lehrauftrag an der Fachhochschule. Wie schaffen Sie dieses Pensum?
Am wichtigsten ist Spaß an der Arbeit. Ich habe meine Arbeit immer gern gemacht, bin neugierig geblieben, hatte Lust auf neue Themen, Innovationen und Technik. Wenn es einmal sehr viel wurde, habe ich mir einfach gesagt: Es gibt auch positiven Stress. Es ist eine Frage der Haltung. Natürlich muss man aufpassen und ich bin teilweise auch an meine Grenzen gekommen. Aber wenn es an die Gesundheit geht oder man nicht ruhig schlafen kann, muss man etwas ändern. Das habe ich immer rechtzeitig getan und ich habe zum großen Glück eine Frau, die mich jederzeit unterstützt und mir den Rücken gestärkt hat.
Wie beschreiben Sie Ihre Zusammenarbeit mit dem Ehrenamt?
Hier will ich unser hervorragendes Verhältnis hervorheben, das über die Jahre immer besser und freundschaftlicher geworden ist. Wir sind untereinander per Du und es ist wirklich ein gemeinsames Arbeiten. Die Theorie sagt eigentlich: Das Hauptamt bereitet vor, das Ehrenamt beschließt und dann führt das Hauptamt die Beschlüsse aus. In der Praxis haben wir aber eigentlich alles gemeinsam gemacht. So konnten wir frühzeitig auf Entwicklungen reagieren. 2016 beispielsweise gab es anhaltende Kritik an der Landwirtschaft, sie sei nicht nachhaltig genug. Die schlagwortgeprägten Diskussionen um Massentierhaltung und Gewässerverunreinigung erreichten Ihren Höhepunkt.
Wir haben mit unserem Papier „Veränderung gestalten“ frühzeitig gesagt, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen und besser werden wollten. Deshalb haben wir 2017 den Dialog aller gesellschaftlichen Gruppen zu Landwirtschaft, Klima und Umwelt vorgeschlagen. Diesen Dialogprozess zur Zukunft der Landwirtschaft hat Dr. Robert Habeck zugesagt und sein Nachfolger als Landwirtschaftsminister, Jan Philipp Albrecht (beide Grüne), dann umgesetzt. Statt der Grabenkämpfe arbeiten wir seitdem gemeinsam an Lösungen, auch mit den Naturschutzverbänden. Zudem war der Dialogprozess eine wichtige Erfahrung und Grundlage für die erfolgreiche Arbeit von Werner Schwarz (CDU) in der Zukunftskommission Landwirtschaft.
Aus meiner Sicht ist die Allianz für den Gewässerschutz ein weiteres Erfolgsprojekt. Minister Robert Habeck hatte in seinem ersten Jahr 2012 im Norla-Landeshauptausschuss mehr Anstrengungen für einen besseren Gewässerschutz gefordert. Unser Vorschlag war die Allianz, die wir dann mit der Abteilung Wasserwirtschaft seines Ministeriums konzipiert haben. In dieser Logik haben wir aktuell auch die kooperative Lösung hinbekommen beim Ostseeschutz. All diese Dinge konnten und können nur durch die gute Zusammenarbeit von Ehrenamt und Hauptamt entwickelt werden.
Sie gelten bundesweit als Kenner der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik. Welche Entwicklungen sehen Sie in Brüssel?
Das Besondere ist, dass ich in meiner Zeit beim Bauernverband die gesamte Entwicklung miterlebt habe. Das ging von aktiver Markt- und Preispolitik mit Intervention und Lagerhaltung über die MacSharry-Reform 1992 mit der Einführung der Direktzahlungen, deren Entkopplung von der Produktion mit der Reform 2003 und den weiteren Reformen bis heute. 1992 haben wir nicht geglaubt, dass diese Direktzahlungen 30 Jahre lang halten. Das ist auch ein Erfolg des Verbandes. Natürlich müssen inzwischen immer mehr Leistungen für die Prämien erbracht werden, aber sie sind nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der Einkommenssicherung. Gleichwohl sagen wir auch: Das System muss sich weiterentwickeln und wieder einfacher werden.
Wie schwer fällt es Ihnen, nun den Staffelstab zu übergeben?
Es fällt mir schon schwer, aber ich bin jetzt 66 Jahre alt und 37 Jahre Arbeit sind auch irgendwann genug. Ich habe ab jetzt mehr Zeit für meine fünf Kinder und vier Enkelkinder und ich spiele gerne Golf. Wir haben Haus und Garten, da ist viel zu tun. Ich habe auch noch andere Pläne, die will ich aber erst angehen, wenn ich tatsächlich feststelle, dass mir langweilig wird. Was ich sicher vermissen werde, sind die Menschen hier im Ehrenamt und im Hauptamt.
Welchen Rat geben Sie dem Verband zum Abschluss?
Wir können als Berufsstand nur etwas erreichen, wenn wir geschlossen auftreten, über alle Produktionsrichtungen, Regionen und über die Bundesländer hinweg. Für mich ist der Bauernverband jedes einzelne Mitglied – wir alle. Entsprechend haben wir selbstbewusst unser Logo „bauern.sh“ genannt. Die Bäuerinnen und Bauern haben im Verband nach wie vor einen ganz hohen Organisationsgrad. Das ist wichtig, um bei der Politik mit einer Stimme zu sprechen. Nur dann können wir etwas erreichen.