Die europäischen Agrarminister trafen sich am Montag und Dienstag im belgischen Limburg und Genk zum informellen Agrargipfel, um über Lebensmittel als strategischen Sektor für Europa zu sprechen. Die EU ist entschlossen, in wichtigen Politikbereichen eine offenere strategische Autonomie zu erreichen, so auch im Bereich der Ernährung, hieß es.
Vor dem Hintergrund der Unsicherheiten und geopolitischen Spannungen möchte die Europäische Union in strategisch wichtigen Politikbereichen unabhängiger agieren, war der Tenor beim informellen Agrarrat. Die Versorgung der EU mit pflanzlichen Proteinen sollte in der strategischen und politischen Diskussion eine stärkere Rolle spielen. Dafür hat sich der polnische EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski auf der Abschlusskonferenz ausgesprochen. Nach seiner Ansicht muss das Thema vor allem im Hinblick auf die kommende Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) nach 2027 mehr ins Zentrum rücken.
Versorgungssicherheit wird intensiv diskutiert
Der Agrarkommissar ließ durchblicken, dass in der künftigen GAP neben der Proteinversorgung Themen wie Versorgungssicherheit, Stabilität, Nachhaltigkeit und Solidarität noch mehr im Mittelpunkt stehen sollten. Außerdem forderte er, den Erhalt von Gemischtbetrieben stärker zu fördern. Was die Landwirte nun nicht wollten, seien weitere Umwelt- und Klimaschutzauflagen.
Wojciechowski kündigte an, dass er noch während seiner Amtszeit seine Position über die künftige Agrarreform darlegen werde. Das Mandat der aktuellen EU-Kommission läuft bis Ende Oktober. Eine erneute Nominierung des polnischen PiS-Politikers gilt angesichts der Abwahl seiner Partei im vergangenen Dezember als ausgeschlossen.
Der EU-Agrarratspräsident und amtierende belgische Landwirtschaftsminister David Clarinval forderte die Kommission auf, möglichst zeitnah eine wirksame Strategie über eine bessere Binnenversorgung der EU vorzustellen: „Es ist wichtig, eine Landwirtschaft zu gewährleisten, die im wahrsten Sinne des Wortes wettbewerbsfähig und nachhaltig ist, also produktiv und einträglich für die Landwirte.“ Die jüngsten geopolitischen Konflikte hätten gezeigt, wie wichtig es sei, ein hohes Maß an Ernährungssicherheit aufrechtzuerhalten.
Lebensmittel könnten als ein strategisches Interesse angesehen werden, wobei Proteine ein entscheidender Teil davon seien. Laut Wojciechowski werden derzeit 23 % des EU-Proteinbedarfs importiert. Bei den hochwertigen Proteinen habe die Gemeinschaft einen Einfuhrbedarf von 66 %, und bei Soja 90 %.
Um diese Ziele zu erreichen, so Clarnival, müsse die EU angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Landwirtschaft steht, Innovationen fördern. Ein möglicherweise weiterführendes Instrument sieht der Brüsseler Minister in den neuen genomischen Züchtungstechniken (NGT).
Spaniens Agrarminister Luis Planas verlangte ebenso, dass sich der Rat auf eine gemeinsame Linie verständigen müsse. Der deutsche Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) begrüßte die Diskussion. Der deutsche Ressortchef betonte, dass eine Erweiterung der EU mit der Ukraine die strategische Eiweißautonomie der Gemeinschaft deutlich stärken würde.
Ernährungssicherheit als oberste Priorität
Dass die EU-Staats- und Regierungschefs voraussichtlich die Ernährungssicherheit in den Mittelpunkt der EU-Agrarpolitik für die nächsten fünf Jahre stellen wollen, geht aus einem Entwurf der strategischen Agenda der EU hervor, berichtete der Brüsseler Nachrichtendienst Euractiv unter Berufung auf den Bericht, der dem Magazin vorliege. Das Programm legt Europas Prioritäten für die Amtszeit 2024 bis 2029 fest, gibt den EU-Institutionen eine Richtung vor und solle von den 27 Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat im Juni angenommen, hieß es weiter. Das interne Dokument, das Ende März verfasst wurde, hebe die Ernährungssicherheit als Schlüsselpriorität hervor, obwohl das Thema in den vergangenen Jahren auf EU-Gipfeln kaum diskutiert worden sei. Der zweiseitige Text erwähne nicht explizit die Nachhaltigkeit des Agrarsektors oder den Umweltschutz, obwohl er die „Vorbereitung auf die neuen Realitäten, die sich aus dem Klimawandel ergeben“, als prioritär einstufe, heißt es. Damit würde dieser erste Entwurf zur Ernährungssicherheit eine Abkehr von den Prioritäten für 2019 markieren, die „die Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft“ und „die Aufforderung an alle EU-Länder, ihre Klimaschutzmaßnahmen voranzutreiben und zu verstärken“ beinhalteten.
Verbesserung der Nachhaltigkeit
Als Reaktion auf die weit verbreiteten Bauernproteste in der gesamten EU hat die Europäische Kommission in den vergangenen Monaten bereits einige ihrer Pläne zur Verbesserung der Nachhaltigkeit des Agrarsektors verschoben oder zurückgezogen.
Faustine Bas-Defossez, Direktorin für Gesundheit, Natur und Umwelt beim Europäischen Umweltbüro (EEB), reagierte laut Euractiv bereits auf den Entwurf und bezeichnete das Fehlen einer nachhaltigen Landwirtschaft in der durchgesickerten Agenda 2024 als „zutiefst beunruhigend“. Indem sie der „Ernährungssicherheit Vorrang vor der Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft geben, ignorieren die EU-Staats- und Regierungschefs die Realität, dass Klimawandel und Naturkatastrophen die größten Bedrohungen für unsere Ernährungssicherheit darstellen“, warnte sie. age, mbw