Der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg wurde 1877 eröffnet. Er ist mit seinen 389 ha der größte Parkfriedhof der Welt. Seit Juli 2001 befindet sich auf dem weitläufigen Gelände ein europaweit einmaliges Projekt: der Garten der Frauen. Er ist ein Ort der Erinnerung mit historischen Grabsteinen von Gräbern bedeutender Frauen und eine letzte Ruhestätte für Frauen. Auch weibliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind hier bestattet.
Vorbei an blühenden Rhododendronbüschen führt der Weg zum Garten der Frauen. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, und es liegt eine zauberhafte, friedvolle Stimmung in der Luft. Inmitten der pulsierenden Metropole Hamburg ist der Parkfriedhof eine Oase der Ruhe, ein Ort für Trauer, ein Ort für Stille und ein Raum, um innezuhalten, sich zu erinnern oder Gräber liebevoll zu pflegen.
Zu diesem Zweck haben sich an diesem Tag auch Mitglieder des gemeinnützigen Vereins Garten der Frauen zusammengefunden. Sie gehören zum rund 20-köpfigen Gartenteam, das von Monika Strecker koordiniert wird. Die Frauen versorgen die Beete mit frischem Wasser, zupfen Unkraut, säubern Sitzgelegenheiten und harken die Wege. Mit Herzblut halten sie die rund 1.700 m2 große Fläche in Ordnung. Dass es diesen wunderbaren Garten auf dem Ohlsdorfer Friedhof überhaupt gibt, ist Bibliothekarin und Historikerin Dr. Rita Bake zu verdanken. Sie initiierte ihn unter Mitwirkung von Dr. Silke Urbanski und Helga Diercks-Norden (†). Den drei Gründerinnen war es wichtig, dass die historischen Leistungen von Frauen nicht in Vergessenheit geraten, sondern die Erinnerung an sie im gesellschaftlichen Gedächtnis wachgehalten wird. Für dieses Vorhaben riefen sie im Herbst 2000 den gemeinnützigen Verein Garten der Frauen ins Leben. Von seinen Mitgliedern wird der Garten ehrenamtlich gepflegt, erhalten und finanziert.
„Er ist eine Gedenkstätte, in der historische Grabsteine bedeutender Frauen aufgestellt werden. Mit einer Erinnerungsspirale wird dort außerdem der Verstorbenen gedacht, die keine Grabsteine hatten oder deren Steine entsorgt wurden. Ebenso können sich Frauen, die Mitglied im Verein sind und zu Lebzeiten einen Grabplatz erworben haben, in den Gemeinschaftsgrabflächen bestatten lassen. Mit dem Erwerb ihrer Grabstätten treten sie als Mäzeninnen zum Erhalt der historischen Grabsteine auf“, informiert Rita Bake. Der Garten sei ein ständig wachsendes Projekt. Es würden immer wieder ‚neue‘ historische Grabsteine hierher verlegt und neue Erinnerungssteine aufgestellt. Laufe die Nutzungsdauer eines für den Verein relevanten Grabes ab, erhalte dieser eine Mitteilung der Friedhofsverwaltung. Bake schaue dann, ob es noch Menschen gebe, die die Grabstätte verlängern wollten. Sei dies nicht der Fall, versuche der Verein, den Grabstein zu übernehmen. „Nach Auflösung der Grabstätten werden Grabsteine normalerweise entsorgt, geschreddert und für den Straßenbau verwendet. Das wollen wir verhindern, indem wir auf eigene Kosten die Steine bedeutender Frauen retten“, so die 72-Jährige.
Ein umrankter Eingangsbogen führt ins idyllische Areal. Rechts fällt der Blick auf die Grabstelle von Domenica Niehoff (1945-2009). Sie arbeitete in Hamburg zunächst als Prostituierte, später als Streetworkerin und war unermüdliche Kämpferin für die Rechte der Huren. „Domenica wurde auch ‚St. Paulis großes Herz‘ genannt. Deshalb verläuft eine Ranke aus Herzen um ihren Grabstein. Auf ihm befindet sich ebenfalls ein Akanthus-Blatt. Diese Pflanze steht symbolisch unter anderem dafür, dass eine schwere Arbeit vollbracht ist“, erklärt Rita Bake. Auch ziert ein Medaillon mit ihrem Porträt den Grabstein.
Ein Stück weiter gibt es auf einer Rasenfläche eine Erinnerungsspirale. Sie ist aus unterschiedlich gestalteten Gedenksteinen zusammengesetzt. „Das Nicht-mehr-Vorhandensein eines Grabsteines darf kein Kriterium dafür sein, diese Frauen der Welt des Vergessens zu überlassen. Die Spirale symbolisiert das wiederkehrende Leben und umfasst mehr als 60 Frauennamen“, berichtet sie.
Es wird zum Beispiel an Rosa Bartl (1884-1968) erinnert, die eine anerkannte Illusionistin und Zauberhändlerin war. Ihr Gedenkstein ist in Form eines Zylinderhuts gestaltet, der mit einer Klappe verschlossen ist. Beim Öffnen erscheint ein weißes Häschen. Ein schwarzer Basalt mit einem Licht in der Aushöhlung des Steins erinnert an die im 16. und 17. Jahrhundert in Hamburg als Hexen beschuldigten und verbrannten Frauen. Frauen, die Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, finden sich genauso namentlich erwähnt wie Streiterinnen für Frauenrechte und Frauenbildung, Wohltäterinnen oder Künstlerinnen. Wer sich über die Lebensläufe dieser und anderer Frauen im Garten kundig machen möchte, kann Kurzbiografien auf Aluminiumtafeln vor Ort nachlesen oder vom Verein Publikationen zum Thema erwerben. Zudem liegen in einem Glashäuschen diverse Infomaterialien aus. Gleich hinter der Erinnerungsspirale lädt eine Märchenbank an einer kleinen Mauer zum Verweilen ein. Dort findet man in einer Nische ein Buch mit Erzählungen, Märchen und Gedichten über Leben und Tod.
Links vom Eingang sieht man nach wenigen Metern eine Erinnerungssäule. „Da die Erinnerungsspirale im Sommer 2021 vom Ausmaß her ihr Ende erreicht hatte, stellten wir ergänzend eine Erinnerungssäule auf, an der Medaillons aus Stein hängen, auf denen wir laufend Geburts- und Sterbedaten weiterer Frauen verewigen können“, merkt sie an.
Betroffen macht beim Rundgang ein Gedenkwürfel aus Glassteinen, der an ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte erinnert. Er wurde im Gedenken an die verstorbenen Säuglinge und Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen errichtet, die in der NS-Zeit zwischen 1943 und 1945 auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet wurden. Auch dreier älterer Mädchen, die selbst Zwangsarbeit leisten mussten, wird hier gedacht. „Frauen aus Polen, Russland, der Ukraine und 13 anderen Nationen wurden in der NS-Zeit aus ihrer Heimat verschleppt und zur Zwangsarbeit eingesetzt“, weiß Rita Bake. Diejenigen, die in dieser Zeit in Hamburg Kinder zur Welt brachten, mussten häufig schon etwa eine Woche nach der Entbindung wieder Schwerstarbeit leisten. Ihre Kinder verstarben meist durch Vernachlässigung und Unterernährung.
Während des Spaziergangs sind ebenfalls knapp 90 historische Grabsteine zu besichtigen. Ein Großteil steht im musealen Bereich am Eingang. Auf einer Stele aus schwarzem Granit, an der oben ein Relief mit einer musizierenden Engelschar angebracht ist, prangt in goldfarbenen Lettern der Name Wilhelmine Marstrand. Sie lebte von 1843 bis 1903 und war eine allseits geschätzte Pianistin und Pädagogin. Sanft umspielt von Blüten des Hartriegelstrauchs und des Rhododendrons hat in einer Ecke dahinter ein lebensgroßer weiblicher Akt aus Marmor, zu dessen Füßen ein Dackel sitzt, seinen Platz gefunden. Auf der Skulptur ist unten der Nachname „Groot“ herausgearbeitet. Sie soll an Marie Groot (1898-1946) erinnern, die mit den Inhabern der Kunsthandlung Groot und dem Postkarten-Großvertrieb und Verlag Groot verwandt war. Über ihr Leben und Wirken ist nur wenig bekannt. „Deshalb steht die Statue symbolisch für all die Frauen, denen wertschätzende Erinnerung kaum zuteilwird, an die sich teilweise selbst die eigenen Familien nicht mehr erinnern“, erläutert Rita Bake.
Vor einem historischen Grabstein der Antonie Milberg (1854-1908), Gründerin und Schulleiterin einer höheren Mädchenschule, liegt auf einer der zurzeit vier aktiven Gemeinschaftsgrabanlagen eine Steinwelle aus sieben Sandsteinen. Sie ist einer Wasserwelle nachempfunden. In dieser werden Namen sowie Geburts- und Sterbedaten der bestatteten Frauen eingraviert.
Mit den historischen Grabsteinen, den auf Aluminiumtafeln verewigten Viten und den Gemeinschaftsgrabanlagen schlägt der Garten der Frauen eine Brücke zwischen Leben und Tod. „Er möchte auch ein Ort sein, an dem miteinander über bereits Verstorbene gesprochen, aber auch über sich selbst und über das eigene Leben und den Tod geredet werden kann“, betont Rita Bake. Der Garten mache spürbar, was der Schriftsteller Thornton Wilder einst so formulierte: „Zwischen dem Reich der Toten und der Lebenden gibt es eine Brücke – die Liebe.“