StartNachrichtenAgrarpolitikGetreide ist im Krieg ein großes Geschäft

Getreide ist im Krieg ein großes Geschäft

Kommentar zu Agrarexporten aus der Ukraine
Von Mechthilde Becker-Weigel
Das Frachtschiff Navistar verlässt den Hafen von Odessa am 5. August mit 33.000 t Mais. Foto: Imago

Normalität am Getreidemarkt, die ein Ausbalancieren und die Preisbildung zwischen Angebot und Nachfrage abbildet, ist passé seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Aus Lieferungen „just in time“ wurde „just in case“, falls Ware vorhanden ist. Das hat die Märkte aufgeheizt. In Lägern der Ukraine lagern schließlich 20 Mio. t Getreide aus der Ernte 2021 die dem Markt entzogen wurden, durch die Zerstörung und Blockade der ukrainischen Hafenanlagen am Schwarzen Meer. Nach langen Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, der UN und der Türkei, die die Rolle des Vermittlers übernahm, haben am 1. August die ukrainischen Schwarzmeerhäfen Odessa, Tschornomorsk und Pivdennyj ihre Arbeit nach gut fünfmonatiger russischer Blockade wieder aufgenommen. Nach Angaben der ukrainischen Hafenverwaltung sind in den ersten neun Tagen zwölf Schiffe mit einer Fracht von insgesamt 370.000 t Agrargütern ausgelaufen. Weitere Schiffe stehen zur Beladung bereit, sodass das angepeilte Ziel, monatlich bis zu 3 Mio. t umzuschlagen, in Reichweite gelangt.

Der Türkei übernimmt dabei eine nicht unwesentliche und womöglich eigennützige Rolle. Mit ihrer Moderations- und Überwachungstätigkeit muss die Türkei auch das Ziel verfolgen, zur Beruhigung der Lage im eigenen Land beizutragen. Denn das Land am Bosporus hat in dieser Saison wegen extremer Trockenheit einen ungewöhnlich hohen Importbedarf an Getreide. Die Erzeugung kann den Getreidebedarf der 85 Millionen Menschen im Land nicht decken. Besonders hoch ist der Weizenbedarf. Denn zur Inlandsnachfrage kommen seit Jahren mehrere Millionen Tonnen für die Exportvermahlung hinzu. Die Türkei zählt global zu den größten Weizenmehlexportländern und hält große Marktanteile vor allem im Irak und im Jemen. Entsprechend groß ist der türkische Importbedarf. Der Wertverfall der türkischen Lira verteuert diese Importe nun von Monat zu Monat. Auch die Verbraucher leiden unter der extremen Inflation und steigenden Brot- und Lebensmittelpreisen. Bei diesem Szenario wird die Erinnerung an den arabischen Frühling wach, an die Proteste, die schließlich in einer Revolution und mit dem Sturz des autokratischen Präsidenten Ägyptens Husni Mubaraks endeten. Während man in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit eher über Energie oder Rüstungsgeschäfte mit Moskau diskutiert hat, ist die Abhängigkeit der Türkei im Bereich Getreideimport immer größer geworden. Wegen steigender Energie- und Personalkosten wanderten in den vergangenen Jahren viele türkische Firmen nach Russland ab. Dort gründen sie ihre Produktionsstätten für Getreide und Mehl. Bei der Eskalation der Ukraine-Krise sehen Experten keine klare Planung für die Krisenversorgung.  

Seitdem erste Schiffe durch die minenbestücken Häfen geleitet werden, lassen sich wieder zarte Marktmechanismen erkennen. „Weizen- und Maiskurse fallen, da immer mehr Schiffe aus der Ukraine auslaufen“, kommentieren Rohstoffhändler. Noch ist das Vertrauen in den Verschiffungskorridor vage, doch die Entwicklungen der vergangenen Tage deuten darauf hin, dass sich die Situation schneller verbessern könnte als erwartet. Darauf haben die Terminbörsen in Chicago (CBOT) und Paris (Matif) mit Kurskorrekturen reagiert. Die Weizenkurse an der Matif sind hin- und hergerissen zwischen den Fortschritten bei der Einrichtung des Seekorridors für ukrainische Transporte und der anhaltend regen Exportnachfrage nach europäischem Weizen.

Es besteht die Hoffnung, dass die Preisbewegungen am Getreidemarkt zukünftig wieder mehr auf Fundamentaldaten basieren, das heißt auf dem Grundkonzept von Angebot und Nachfrage und weniger auf angstbasierten psychologischen Faktoren. Doch solange der Export aus der Ukraine mit großen logistischen Herausforderungen verbunden ist, sind unerwartete Ausschläge in beide Richtungen weiter möglich.

Mechthilde Becker-Weigel
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