Die Morsumerin Claudia Nagel erfüllte sich einen Lebenstraum. Mit ihrem Pferd fuhr sie ins Allgäu, von wo aus sie 200 km durch die Alpen bis nach Italien ritt. Ein anspruchsvolles, aber mit guter Vorbereitung pferdekonform umsetzbares Unterfangen, das die Sylterin bis heute mit großen Emotionen und tiefer Dankbarkeit erfüllt.
Schon in ihrer Kindheit liebte Claudia Nagel alle Tiere. „Damit war ich ein Exot in meiner Familie“, erzählt die heute 54-Jährige lachend. Unbedingt wollte sie reiten lernen, doch das war teuer und ihre Eltern hatten Respekt vor den großen Tieren. Nach langem Sehnen setzte sie sich durch und durfte einmal die Woche Reitunterricht nehmen. „Für einen Ausritt musste ich dann einmal aussetzen, denn das waren zwei Stunden und dementsprechend teuer“, erinnert sie sich.
Mit 14 Jahren war es endlich so weit, dass sie zur Konfirmation ihr erstes Pony bekam. Allerdings hatte sie auf Pferden reiten gelernt und der nur 120 cm große Araber-Haflinger-Mix war schnell zu klein für sie. Bald musste sie sich wieder von ihm trennen.
Als Abiturientin arbeitete sie sich in ihrem Stall zur Reitlehrerin hoch, führte Ausritte und gab Kindern die ersten Stunden an der Longe. Zu dieser Zeit brachte ein berittener Polizist aus Berlin sein ausrangiertes Dienstpferd nach Sylt. „Das war eine Stute im besten Alter, aber die wollten nur noch Wallache“, erinnert sich Nagel. Der Polizist schenkte der damals 18-Jährigen das Pferd, nachdem sie sich ein halbes Jahr gut darum gekümmert hatte. Die Stute, eine Holsteinerin mit Staatsprämie, wurde 24 Jahre alt und wechselte nicht mehr den Besitzer. Nagel ließ sie decken und behielt auch das Fohlen Philou für seine 26 Lebensjahre bei sich.
„Mir wurde in der Zwischenzeit noch ein Pferd geschenkt“, erzählt sie. Einsteller und Reitschüler hatten zusammengelegt, um ihr zum Geburtstag eine kleine Stute zu kaufen, die in dem Reitstall zur Welt gekommen war. Ihre drei Pferde stellte sie im Sommer auf die Weide ihrer Großeltern und im Winter in den nahe gelegenen Reitstall in Keitum. Zehn Jahre lang handhabte sie das so. Inzwischen stehen Nagels Pferde das ganze Jahr über bei ihr am Haus.
Eine neue Aufgabe
Die Idee von der Alpenüberquerung hatte Claudia Nagel schon vor 20 Jahren, doch der richtige Zeitpunkt ließ auf sich warten. Sie bekam einen Sohn, arbeitete im familieneigenen Gastronomiebetrieb mit und betreut nun seit einigen Jahren ihre Eltern.
Lange fehlte ihr auch ein Pferd, das fit genug für ihren Plan war. Doch sie hatte schon mit dem Distanzreiten begonnen und unternahm immer wieder Wanderritte auf der ganzen Welt, unter anderem in Amerika und Ägypten. In Spanien wurde ihr eines Tages ein junger Spanier für eine Pyrenäenüberquerung angeboten. „Er war sehr lieb, ich konnte aber noch gar nicht richtig auf ihn einwirken“, so Nagel. Dennoch verliebte sie sich schnell in Tizón. „Das war dann ein großes Hin und Her“, erinnert sie sich. Denn eigentlich wollte sie gar kein Pferd kaufen. Die Familie hatte gerade das Restaurant aufgegeben und in ihrem Leben war vieles im Wandel. Doch das junge Pferd ließ sie nicht los und so fuhr sie im gleichen Jahr noch zweimal nach Spanien.
„Es kristallisierte sich dann immer mehr heraus, dass ich eine neue Aufgabe wollte. Als er mir für einen fairen Preis angeboten wurde, gab es einen Handschlag und er war meiner. Eine Herzensangelegenheit“, berichtet Nagel. Erst als sie die Papiere in den Händen hielt, erfuhr sie, dass Tizón nur vier Jahre alt war. Nun hofft sie, dass er trotz der frühen Belastung lange gesund bleibt. Doch die Entscheidung hat sie nie bereut: „Er hat mir schon so viel Freude bereitet.“
Inzwischen ist Tizón seit acht Jahren bei Nagel zu Hause. Mit dem Wissen um seine Fähigkeiten in steinigem und bergigem Gelände kam der Traum der Alpenüberquerung wieder auf. „Doch immer sprach etwas dagegen und es war so viel zu bedenken. Ich wollte es nicht angehen“, gibt sie zu.
Viel zu organisieren
Schließlich war es ihre Horsemanship-Trainerin, die das Thema voranbrachte. Sie kannte die Reitlehrerin Barbara Ochotta, die sich auf Alpenritte von Gruppen spezialisiert hat. „Träume soll man doch nicht einfach aufgeben“, riet sie ihrer Schülerin und stellte den Kontakt her. In vielen Telefonaten planten Nagel und Ochotta, wie man die Reise von Sylt über die Alpen am besten umsetzen könnte. Die Vorbereitungen dauerten 16 Monate.
In dieser Zeit arbeiteten Tizón und Nagel an ihrer Fitness. „Auf Sylt muss man viel spielen, um Strecke zu machen. Oft bin ich im Kreis geritten. Das, was es an Hügeln gab, habe ich immer mitgenommen“, erzählt Nagel. Immer waren sie vier bis fünf Stunden unterwegs, streckenweise führte sie ihr Pferd. Je nach Jahreszeit ging es an den Strand, Dünen hoch und hinunter, und sie machten viel Intervalltraining. Sie führte akribisch Buch. Am Ende war das Paar aus dem flachen Norden das fitteste bei der Alpenüberquerung.
Gemeinsam mit ihrer Horsemanship-Trainerin brach Nagel mit Auto und Hänger auf. Die ganze Nacht durch fuhren sie, 980 km bis ins bayerische Memmingen. Dort machten Pferd und Reiterin erst einmal fünf Tage Pause. „Wir mussten noch Papierkram regeln, immerhin ging es über zwei Landesgrenzen“, erklärt Nagel. Tizón brauchte außerdem einen Spezialbeschlag für die Alpen. Seine Besitzerin wählte Duplos und die bewährten sich. In Ruhe akklimatisierten sich Mensch und Pferd und machten schon erste kleine Ausflüge. Noch regnete es, doch der Wetterbericht versprach gutes Wetter für die Zeit der Alpenüberquerung.
Neben der Veranstalterin und ihrem Partner kamen acht Teilnehmer mit auf den Trip. Die meisten stammten aus der engeren Umgebung, eine aus Dresden und Nagel ganz aus dem Norden von der Insel Sylt. Mit Auto und Hänger ging es weiter nach Schwangau an den Fuß des Schlosses Neuschwanstein. Von dort holte ein Freund von Claudia Nagel das Gespann ab und fuhr damit schon einmal nach Italien vor. „Das musste ich im Vorfeld alles planen. Auch die Tatsache, dass mein Mann zwei Wochen lang ohne Auto klarkommen musste“, erklärt sie.
Heute weiß sie nicht mehr, wie lange sie allein am Equipment herumgefummelt hat. Dank ihrer Trailerfahrungen wusste sie, dass auf keinen Fall etwas scheuern darf. In den Bergen braucht man außerdem ein perfektes Vorderzeug, was sie auf der flachen Insel Sylt nicht testen konnte.
Bis zum Gipfelkreuz
Doch dann ging es endlich los: sechs reine Reittage über die Alpen. Täglich etwa 30 km, 200 km insgesamt, bei strahlend blauem Himmel. Jeden Abend kehrten die Reiter in einem Hotel ein, es gab leckeres Essen, weiche Betten und einmal sogar Sauna und Schwimmbad. Auch die Pferde waren sehr gut untergebracht.
Für Nagel, die schon über verschiedene Berge geritten ist, war das hier alles, was sie sich erträumt hatte: Mit dem eigenen Pferd eine solche Aufgabe zu meistern. „Es ist so toll, was man zusammen mit seinem Pferd erreichen kann. Für mich war es wie ein kleiner Jakobsweg. Ich wollte es unbedingt gut machen und das hat geklappt. Es war einfach nur perfekt“, schwärmt sie. Jeden Tag wuchs sie mit ihrem Pferd enger zusammen. Morgens wartete Tizón schon neugierig auf sie, als sei er gespannt, was heute anstehe.
Dabei war der gesamte Trip nicht ganz ungefährlich. Der Weg führte an Abhängen vorbei, durch Geröllfelder und an Straßen entlang. Die Pferde mussten nicht nur trittsicher und fit sein, sondern auch gänzlich unerschrocken.
Der absolute Höhepunkt war das Ziel – in jeder Hinsicht. Das Gipfelkreuz auf dem italienischen Pass Timmelsjoch steht in 2.700 m Höhe. „Das rührt mich heute noch“, sagt Nagel mit erstickter Stimme. Die letzten Meter nach dem finalen, 45 min dauernden Anstieg seien einfach unfassbar gewesen. Oben angekommen seien alle erst einmal still geworden. Selbst die Pferde hätten in die Weite geguckt. „Ich musste furchtbar weinen. Ich kann das Gefühl selbst heute noch nicht in Worte fassen“, erzählt Nagel. Eigentlich seien sie nur einen Berg hochgeritten und oben angekommen, aber es sei einfach fantastisch gewesen. Alle Reiter ließen ihre Pferde los, die trotzdem zusammen stehen blieben. Eine Stunde verbrachte die Gruppe auf dem Berg und ließ alles auf sich wirken.
Auf der Reise hat Nagel „ganz tolle Menschen kennengelernt“. Vor allem mit der Veranstalterin verbinde sie inzwischen eine Freundschaft, die bestimmt länger halte. Zurück auf Sylt brauchte sie Zeit, um wieder richtig zu Hause anzukommen. „Die Rührung hat mich immer wieder überwältigt“, berichtet sie.
So viele Menschen haben sie bei der Umsetzung ihres Traums unterstützt: ihre Eltern, ihr Ehemann, ihr Sohn, ihr Chef, ihre Trainerin und natürlich die Veranstalterin. Besonders dankbar ist sie ihrer Horsemanship-Trainerin und einem langjährigen Freund aus Österreich, die sie auf den langen Transportwegen als Fahrer begleitet haben. Alle fanden, Träume müsse man leben, und rieten ihr: „Sieh zu, dass du loskommst.“ Rückblickend findet Claudia Nagel: „Der Ausbruch aus dem normalen Leben war sehr groß, aber es hat sich gelohnt.“


                        
                        
                        
                        
                        
                        
                        
                        
                        
                        

