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Foto: Iris Jaeger
„Dieses Buch habe ich für uns geschrieben. Für Jan, Malena, Johanna und mich. In diesem Buch steckt ein Leben. Lornes Leben. Er soll nicht vergessen werden. Wir haben ihn so sehr geliebt!“
So schreibt es Dörte Thomsen aus Ehndorf in ihrem Buch „Niemand sieht den Himmel so wie du – Lorne, mein Sohn“. „Doch es ist auch ein Buch, das Mut macht und zeigt, dass man nicht aufgeben sollte, sondern es sich lohnt zu kämpfen“, sagt die Autorin. Mit dem Buch verarbeitet sie die Krankheit und den Verlust ihres Sohnes Lorne, der vier Wochen nach seinem 16. Geburtstag starb. 437 Seiten lang schreibt sie sich alles von der Seele – erzählt mit dem einen oder anderen Augenzwinkern vom Leben auf dem landwirtschaftlichen Betrieb in Ehndorf mit Ehemann Jan, den Töchtern Malena und Johanna, mit ihren Schwiegereltern Annegret und Heinrich. In bewegenden Kapiteln berichtet sie von ihrem geliebten Sohn Lorne, der nach einem Impftermin plötzlich unter Anfällen leidet und bis zu seinem Tod am 13. Juli 2020 behindert bleibt.
Das Schreiben ist für sie ein anstrengender und aufwühlender Prozess, aber es ist auch heilsam. „Einige Zeit nach Lornes Tod stand ich in unserem Büro und sah die zwölf Ordner, voll mit dem Schriftverkehr mit Ärzten, Behörden, Versicherungen und der Krankenkasse, mit Kalendereinträgen, Anträgen, Dokumentationen, Notizen und vielem mehr. Das konnte ich nicht wegwerfen, da steckt doch Leben drin.“
Sie beschließt, die Geschichte aufzuschreiben, nur für sich, für die Familie und den engsten Freundeskreis. An eine Veröffentlichung war da noch gar nicht zu denken. „Aber ich konnte nicht aufhören, es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass dieses Leben nicht vergessen wird“, so die Mutter. „Es hatte alles endlich seinen Platz, wir wussten, wo alles ist, es gab nicht mehr diese Wand aus Ordnern, sondern alles war sortiert auf den Seiten“, formuliert es Tochter Malena.
Eine Woche lang sortiert Dörte Thomsen das angefallene Material und ordnet es chronologisch. Dann beginnt sie die Schreibreise. Als das Buch fertig ist, gibt sie es der Familie und Freunden zu lesen. Viele von ihnen meinen daraufhin: „Das muss in die Welt, es würde Menschen helfen, die in einer ähnlichen Situation sind“, so der Tenor.
Zu Gast bei einer Lesung in der Buchhandlung Krauskopf in Neumünster, lernt Dörte Thomsen die Autorin und Buchcoachin Alexandra Brosowski kennen und erzählt ihr von ihrer Geschichte. Sie bietet ihr an, das Buch zu lesen. Kurze Zeit später bestärkt auch sie Dörte Thomsen darin, ihr Werk zu veröffentlichen. Zusammen überarbeiten sie das Manuskript.
Dann wird der Familienrat zusammengerufen, denn noch sind nicht alle von einer Veröffentlichung überzeugt: „Malena und ich waren dafür, Johanna und Jan hatten berechtigte Bedenken, denn es geht ja um Einblicke in unser privates Leben“, so die Autorin. Als alle einverstanden sind, veröffentlicht sie ihre Geschichte 2024 im Selbstverlag bei Book on Demand (BoD). Johanna gestaltet das Buchcover – ein schaukelndes Kind mit einem großen Baum und einem kleinen Rotkehlchen. Lorne hat für sein Leben gern geschaukelt, was es mit dem Rotkehlchen auf sich hat, erzählt Dörte Thomsen in einem kleinen Zusatzkapitel im Buch.
Malena spricht die Geschichte zusammen mit R.SH-Moderator Carsten Kock als Hörbuch ein, das dieses Jahr noch veröffentlicht werden soll.
Ein Kind der Sonne
Lorne, ein Kind der Sonne, wie die Mutter ihn beschreibt, kommt am 18. Juni 2004 gesund und munter auf die Welt und wird von Anfang an von allen geliebt. Familie Thomsen lebt auf einem landwirtschaftlichen Betrieb auf Gut Lebenau in Ehndorf bei Aukrug. Seinerzeit bewirtschafteten sie 160 ha, versorgten 80 Milchkühe und die gleiche Anzahl an Kälbern und Jungtieren. Dörte Thomsen erzählt in dem Buch vom Hofleben sowie vom Generationenkonflikt zwischen ihr, ihrem Mann und den Schwiegereltern.
Sie selbst ist in der Landwirtschaft groß geworden, machte eine Lehre zur Bankkauffrau, war stellvertretende Zweigstellenleiterin. Als gestandene Frau kam sie damals in den bestehenden Familienverbund und es wurde erwartet, dass sie sich einfügte und unterordnete. „Das war für mich eine Wahnsinnsumstellung und manchmal wirklich schwierig. Das Haus, in dem wir leben, gehörte ja meinen Schwiegereltern und die gingen hier ein und aus und bestimmten. Nicht weil sie es böse meinten, sondern weil es für sie völlig normal war“, so Dörte Thomsen. Ihre Schwiegermutter sei in allem perfekt gewesen und äußerst patent. Jahre später gehören ihre Schwiegereltern mit zu den wichtigsten Stützen im Leben mit dem erkrankten Lorne. Alle Konflikte sind da vergessen.
Ein Jahr und vier Monate nach der Geburt von Lorne steht ein Impftermin für ihn an, den Dörte Thomsen zwei Mal verschieben muss, weil Lorne nicht richtig fit ist. Auch beim dritten Termin ist er leicht verschnupft, die Ärztin hat aber keine Bedenken. Lorne erhält eine Sechsfach-Auffrischungsimpfung. 48 Stunden später stöhnt Lorne beim Füttern laut auf, sackt leblos auf seinem Hochstuhl zusammen und erwacht erst wieder im Krankenhaus.
Wendepunkt im Leben
Seit dem Tag ist nichts mehr, wie es war. Es folgen weitere Anfälle in unterschiedlicher Ausprägung, aber eine Epilepsie kann nicht nachgewiesen werden. „Diese Diagnose haben wir bis zum Schluss nie richtig erhalten“, erzählen die Eltern von ihren Erfahrungen. „Ob die Impfung der Auslöser war, ist nicht belegt und nur eine Vermutung, weil sie den Wendepunkt in unserem Leben darstellt. Wir halten Impfen nach wie vor für eine gute Sache, es birgt aber auch Risiken“, betonen die Eltern, die in dem Buch das Impf-Fass bewusst nicht aufmachen wollen.
Nach dem Vorfall im Oktober 2005 lässt Dörte Thomsen in den folgenden Jahren nichts unversucht, um herauszufinden, was ihrem Sohn fehlt, und hofft, ihn wieder gesund zu bekommen. Sie schreibt immer wieder Dinge auf, falls danach von Ärzten oder Therapeuten gefragt wird. Schon da ist ihr klar: „Wenn wir das überstanden haben und Lorne gesund und munter herumläuft, schreibe ich ein Buch darüber. Das glaubt uns sonst keiner.“ Es folgt ein jahrelanger Untersuchungs- und Behandlungsmarathon, ein Kampf gegen Behörden und Bürokratie, eine Odyssee, die allen alles abverlangt bis zur totalen Erschöpfung.
Die Mutter greift hoffnungsvoll nach jedem noch so kleinen Strohhalm, liest unzählige Bücher und Berichte, recherchiert, schreibt Mails und Briefe, versucht es mit alternativen Behandlungsmethoden. Sie hofft, bangt, verzweifelt, weint, lacht und kämpft, aber sie gibt sich und ihre Familie nie auf. Sie bleibt stark, auch für ihre beiden Töchter, die ihre Mutter unterstützen und sich liebevoll um ihren Bruder kümmern. Der wiederum himmelt seine Schwestern an. Malena sagt: „Wir hatten nie das Gefühl, zurückstehen zu müssen. Im Gegenteil, uns wurde alles ermöglicht, Mama und Papa haben uns überall hingefahren und auch wieder abgeholt, wir mussten auf nichts verzichten.“
Liebe ist die stärkste Kraft
Lorne wird zu einem Kind mit Einschränkungen. Körperlich entwickelt er sich normal weiter, bleibt geistig aber auf dem Stand eines Einjährigen. Er kann nicht sprechen, aber Laute von sich geben. Füttern und Wickeln bleiben Daueraufgaben. Dabei ist er äußerst aktiv und hat einen ausgeprägten Bewegungsdrang.
Lorne liebt es, draußen zu sein, auf dem Hof, im Stall, auf seiner Schaukel im Garten oder in der Maschinenhalle. Er liebt es zu schaukeln, zu rennen, Trampolin zu springen, Lieder zu hören und mitzusummen. Und er liebt alles, was einen Motor hat, fährt am liebsten stundenlang bei Vater Jan auf dem Trecker, dem Radlader oder Rasenmäher mit. Doch er muss durchgehend beaufsichtigt werden, da er kein Gespür für Gefahren hat und unerwartet Anfälle auftreten können. Auf Phasen mit Anfällen folgen mitunter auch längere anfallsfreie Phasen, aufkeimende Hoffnung wechselt mit totaler Verzweiflung und Hilflosigkeit ab. Und doch, so schreibt Dörte Thomsen es zu Beginn in ihrem Buch, sei sie die meiste Zeit glücklich gewesen. „Liebe ist die stärkste Kraft, die uns alles schaffen lässt. Das hat mein Sohn mich gelehrt“, so die Mutter. Es sind diese und noch weitere Sätze, die Mut machen.
Die Familie hält zusammen und organsiert ihr Leben rund um Lorne herum. „Das haben wir richtig gut hinbekommen“, sagt Johanna. Wie bei einem Staffellauf wechseln sie sich in der Betreuung von Lorne ab, wenn einer ihn an der Hand hat, übergibt er ihn an den nächsten zum Aufpassen. Und dann ist da ja auch noch der Hof, der bewirtschaftet werden muss, und die Tiere, die versorgt werden müssen.
Um sich etwas Freiraum zu schaffen, beschließen sie, sehr zum Unverständnis von Jans Vater Heinrich, das Melken einzustellen, die Kühe abzuschaffen und sich auf den Ackerbau zu konzentrieren. Die Aufgaben teilen sie auf: Vater Jan macht die Arbeit draußen, Mutter Dörte kümmert sich um die Buchhaltung und den Haushalt. Um die Kinder kümmern sich beide. Sie werden von Jans Eltern unterstützt, wo es nur geht. „So schwierig es anfangs mit uns war, mit diesem Generationenkonflikt auf dem Betrieb, wenn es wirklich mal brennt, dann halten alle zusammen. Auch das habe ich mitgenommen aus der Zeit“, sagt Dörte Thomsen.
Sie baut sich im Laufe der Jahre ein Helfernetz auf, beantragt Hilfsmittel, die jedes Mal zunächst abgelehnt werden, aber sie lernt auch, Widersprüche einzulegen und Hilfe einzufordern – was neben der Pflege und Betreuung ihres Kindes samt Arbeit auf dem Hof zusätzlich Kraft kostet und belastet. Wer Angehörige pflegt und auf Hilfsmittel angewiesen ist, weiß, wovon sie erzählt. Sie hat deshalb dem Buch einen Pflege-Ratgeber mit dem Titel „Mein Kind ist behindert – was nun?“ angefügt. Lorne erhält Frühförderung, besucht die Kita, geht zur Schule, auch wenn er nie Lesen, Schreiben oder Rechnen lernt. Aber er wird in den Dingen gefördert, die er kann und für die Eltern gibt es nun Auszeiten, in denen sie durchatmen können. Über Mitteilungsbücher tauschen sich alle, die Lorne betreuen, aus.
Lorne ist Lorne
Wenn es Lorne gut geht, lacht er aus voller Seele und erobert damit im Sturm die Herzen aller Menschen, die ihn begleiten oder ihm begegnen. „Er war ein absoluter Sonnenschein, immer fröhlich“, so Dörte Thomsen. Schlimm ist es für alle, wenn es ihm schlecht geht, er von Anfällen oder Infektionen lahmgelegt ist. Auch wenn keine Epilepsie diagnostiziert ist, erhält er gegen die Anfälle entsprechende Medikamente, die aber alles nur zu verschlimmern scheinen und ihn teilnahmslos im Rollstuhl sitzen lassen. „Das war nicht mehr unser fröhlicher Junge“, so Dörte Thomsen.
Während sie und die Töchter noch abwägen, ob sie die Medikamente einfach absetzen sollen, spricht Vater Jan ein klares Machtwort: „Lorne ist Lorne. Wir nehmen ihn jetzt so, wie er ist. Wir kriegen das schon hin.“ Schlafmangel wird ein beständiger Begleiter von Dörte Thomsen. Nachts hat sie immer ein Ohr für ihren schlafenden Sohn, hört das Rascheln seiner Decke bei schlechten Träumen, Geräusche, komisches Atmen, wenn er einen Anfall hat oder weint. Dringend notwendige Auszeiten muss sie sich teuer erkaufen, meist hält die Erholung nur kurz. „Lief es an einer Stelle gerade gut, geschah wieder etwas an anderer Stelle, es hörte nie auf“, so die Mutter.
Humor nie verloren
Aber neben all den Belastungen gibt es auch schöne Momente in den 16 Lorne-Jahren, in denen gelacht wird. „Unseren Humor haben wir uns nie nehmen lassen“, beteuern alle. Ein herausragendes Ereignis stellt die gemeinsame Reise nach Teneriffa zu einer Delfintherapie dar, bei der die Familie im Atlantik mit frei lebenden Walen und Delfinen schwimmen darf – für alle ein unvergessliches Erlebnis. Lorne wächst zu einem hübschen jungen Mann heran und verzaubert alle mit seinem Lachen, doch die Hoffnung, dass er wieder gesund wird, schwindet mit den Jahren.
Stattdessen rücken neue sorgenvolle Fragen in den Vordergrund. Was soll aus ihm werden, wenn er erwachsen ist? Wer kümmert sich um ihn, wenn die Eltern nicht mehr da sind? Mit 16 Jahren ist er bereits 1,80 m groß und sehr kräftig. Wohin mit ihm, ihn in eine Einrichtung geben? So körperlich fit wie er ist, wer soll ihn nehmen? Zumal Dörte Thomsen sich nicht vorstellen kann, ihren geliebten Sohn abzugeben.
2020 steht ein Klinikwechsel von Kiel nach Hamburg an. Im Juli soll es für eine komplexe Untersuchung ins Klinikum nach Hamburg-Eppendorf gehen. „Das stand mir so bevor, wieder eine Woche mit Lorne ins Krankenhaus“, erzählt Dörte Thomsen. Doch dann, zwei Tage bevor es nach Hamburg geht, stirbt Lorne am 13. Juli 2020 im Schlaf. „Ihn am Morgen tot im Bett zu finden, war ein Schock, man kann es nicht in Worte fassen. Ich habe in der Nacht nichts gehört. Und das, wo ich sonst immer alles gehört habe. Er muss sich einfach so weggeschlichen haben.“ Noch heute zündet sie jeden Morgen eine Kerze an und stellt sie zu einem Bild von Lorne. „Wir haben viel von ihm gelernt, vor allem die kleinen Dinge im Leben zu genießen, sich an den kleinen Freuden des Alltags zu erfreuen“, so Dörte Thomsen. Lorne ist nicht mehr da, aber er lebt weiter in den Herzen der vielen Menschen, die er mit seinem Lachen erobert hat. Und er lebt in dem Buch von Dörte Thomsen.
Literatur:
Dörte Thomsen, „Niemand sieht den Himmel so wie du, Lorne, mein Sohn“, 437 Seiten, 19,99 €, Books on Demand, ISBN 978-3-7597-6842-1,
https://buchshop.bod.de/niemand-sieht-den-himmel-so-wie-du-doerte-thomsen-978375976842
Podcast-Folge mit Alexandra Brosowski unter https://schreib-flausch.podigee.io/21-ein-buch-fuer-lorne-doerthe-thomsen
Weitere Informationen auch unter doerte-thomsen.de